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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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doctrinärer Enthusiast in auswärtigen Angelegenheiten. Bekannt ist seine Budget¬
rede vom Jahre 1852, die den Anfang zu einer Reihe geistvoller Auseinander¬
setzungen im Parlamente bildete. 1860 setzte er den Abschluß des englisch¬
französischen Handelsvertrages durch. In Aller Gedächtniß ist sein Schreiben
an den Minister Aberdeen, das sich über die Zustände in Neapel verbreitete
und von den Italienern als einer der Haupthebel zum Sturze der dortigen
Bourbonen angesehen wird. Sonst war seine Politik nach außen hin, namentlich
als er von 1868 bis 1874 an der Spitze der Regierung stand, eine quäkerhaft
friedliche, der das Ansehen Englands gegenüber der Erhaltung der Ruhe, wie
sie die Kaufleute brauchten, wenig oder nichts galt. Sein durch diese Gesinnung
dictirtes Verhalten in der Alabama-Frage, in der er sich den Ansprüchen
Amerikas überaus willfährig zeigte, war die Hauptursache seines Sturzes durch
Disraeli-Beaconsfield, der dann allerdings wesentlich andere Bahnen wandelte.
Der Charakter Gladstones bietet scheinbar viele Widersprüche. In unerhört
heftigem Tone beschuldigte er, als er zu den Führern der Opposition gehörte
und namentlich in seinen Reden während der letzten Wahlen, die Großmächte
des Festlandes ehrgeiziger Pläne und einer Politik der Sonderinteressen und
bekannte sich zu Projecten betreffs einer ideologischen Umgestaltung der Welt,
bei denen er von allen Interessen und jeder menschlichen Leidenschaft absah und
den Mächten Europas Zumuthungen machte, als ob dieselben sich nothwendiger
und natürlicher Weise ebenso von purer Großmuth leiten lassen könnten wie
ein Minister a. D., welcher auf den brittischen Inseln philosophirt, so daß der
Pariser Ismx8 nicht Unrecht hat, wenn er sagt: "Herr Gladstone ist vor
Allem eine schöne Seele, und seine ideale Gedankenwelt stößt sich an den
gemeinen Bestrebungen unserer armen Menschennatur und möchte sie vergessen,
um ein Europa der Phantasie zu schaffen, in welchem nur Friede und Gerechtig¬
keit wohnen."

Carl Granville, der neue Minister des Auswärtigen, ist 1815 geboren,
also ungefähr so alt wie Fürst Bismarck. 1840 und 1841 war er Unterstaats-
secretär, 1851 kurze Zeit Staatssecretär des Aeußeren, welchen Posten er später
von 1870--1874 wieder bekleidete, nachdem er zwei Jahre die Angelegenheiten
der Colonien geleitet hatte. Er hat sich niemals als besonders starker Charakter
mit festem Sinn und entschiedenen Grundsätzen bewährt, und seine äußere
Politik war die schwächlichste, die England in diesem Jahrhundert gesehen hat.
Wir möchten der ?all UM SaWtts darum uicht widersprechen, wenn sie die
Ernennung des Lords mit folgenden Bedenken begrüßte: "Der Umstand, daß
Lord Granville Minister für die auswärtigen Angelegenheiten geworden ist,
wird von fremden Staatsmännern als Thatsache von ernster Bedeutung ange¬
sehen werden. Lord Hartington würde Herrn Gladstones eigenthümliche An-


doctrinärer Enthusiast in auswärtigen Angelegenheiten. Bekannt ist seine Budget¬
rede vom Jahre 1852, die den Anfang zu einer Reihe geistvoller Auseinander¬
setzungen im Parlamente bildete. 1860 setzte er den Abschluß des englisch¬
französischen Handelsvertrages durch. In Aller Gedächtniß ist sein Schreiben
an den Minister Aberdeen, das sich über die Zustände in Neapel verbreitete
und von den Italienern als einer der Haupthebel zum Sturze der dortigen
Bourbonen angesehen wird. Sonst war seine Politik nach außen hin, namentlich
als er von 1868 bis 1874 an der Spitze der Regierung stand, eine quäkerhaft
friedliche, der das Ansehen Englands gegenüber der Erhaltung der Ruhe, wie
sie die Kaufleute brauchten, wenig oder nichts galt. Sein durch diese Gesinnung
dictirtes Verhalten in der Alabama-Frage, in der er sich den Ansprüchen
Amerikas überaus willfährig zeigte, war die Hauptursache seines Sturzes durch
Disraeli-Beaconsfield, der dann allerdings wesentlich andere Bahnen wandelte.
Der Charakter Gladstones bietet scheinbar viele Widersprüche. In unerhört
heftigem Tone beschuldigte er, als er zu den Führern der Opposition gehörte
und namentlich in seinen Reden während der letzten Wahlen, die Großmächte
des Festlandes ehrgeiziger Pläne und einer Politik der Sonderinteressen und
bekannte sich zu Projecten betreffs einer ideologischen Umgestaltung der Welt,
bei denen er von allen Interessen und jeder menschlichen Leidenschaft absah und
den Mächten Europas Zumuthungen machte, als ob dieselben sich nothwendiger
und natürlicher Weise ebenso von purer Großmuth leiten lassen könnten wie
ein Minister a. D., welcher auf den brittischen Inseln philosophirt, so daß der
Pariser Ismx8 nicht Unrecht hat, wenn er sagt: „Herr Gladstone ist vor
Allem eine schöne Seele, und seine ideale Gedankenwelt stößt sich an den
gemeinen Bestrebungen unserer armen Menschennatur und möchte sie vergessen,
um ein Europa der Phantasie zu schaffen, in welchem nur Friede und Gerechtig¬
keit wohnen."

Carl Granville, der neue Minister des Auswärtigen, ist 1815 geboren,
also ungefähr so alt wie Fürst Bismarck. 1840 und 1841 war er Unterstaats-
secretär, 1851 kurze Zeit Staatssecretär des Aeußeren, welchen Posten er später
von 1870—1874 wieder bekleidete, nachdem er zwei Jahre die Angelegenheiten
der Colonien geleitet hatte. Er hat sich niemals als besonders starker Charakter
mit festem Sinn und entschiedenen Grundsätzen bewährt, und seine äußere
Politik war die schwächlichste, die England in diesem Jahrhundert gesehen hat.
Wir möchten der ?all UM SaWtts darum uicht widersprechen, wenn sie die
Ernennung des Lords mit folgenden Bedenken begrüßte: „Der Umstand, daß
Lord Granville Minister für die auswärtigen Angelegenheiten geworden ist,
wird von fremden Staatsmännern als Thatsache von ernster Bedeutung ange¬
sehen werden. Lord Hartington würde Herrn Gladstones eigenthümliche An-


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[0454] doctrinärer Enthusiast in auswärtigen Angelegenheiten. Bekannt ist seine Budget¬ rede vom Jahre 1852, die den Anfang zu einer Reihe geistvoller Auseinander¬ setzungen im Parlamente bildete. 1860 setzte er den Abschluß des englisch¬ französischen Handelsvertrages durch. In Aller Gedächtniß ist sein Schreiben an den Minister Aberdeen, das sich über die Zustände in Neapel verbreitete und von den Italienern als einer der Haupthebel zum Sturze der dortigen Bourbonen angesehen wird. Sonst war seine Politik nach außen hin, namentlich als er von 1868 bis 1874 an der Spitze der Regierung stand, eine quäkerhaft friedliche, der das Ansehen Englands gegenüber der Erhaltung der Ruhe, wie sie die Kaufleute brauchten, wenig oder nichts galt. Sein durch diese Gesinnung dictirtes Verhalten in der Alabama-Frage, in der er sich den Ansprüchen Amerikas überaus willfährig zeigte, war die Hauptursache seines Sturzes durch Disraeli-Beaconsfield, der dann allerdings wesentlich andere Bahnen wandelte. Der Charakter Gladstones bietet scheinbar viele Widersprüche. In unerhört heftigem Tone beschuldigte er, als er zu den Führern der Opposition gehörte und namentlich in seinen Reden während der letzten Wahlen, die Großmächte des Festlandes ehrgeiziger Pläne und einer Politik der Sonderinteressen und bekannte sich zu Projecten betreffs einer ideologischen Umgestaltung der Welt, bei denen er von allen Interessen und jeder menschlichen Leidenschaft absah und den Mächten Europas Zumuthungen machte, als ob dieselben sich nothwendiger und natürlicher Weise ebenso von purer Großmuth leiten lassen könnten wie ein Minister a. D., welcher auf den brittischen Inseln philosophirt, so daß der Pariser Ismx8 nicht Unrecht hat, wenn er sagt: „Herr Gladstone ist vor Allem eine schöne Seele, und seine ideale Gedankenwelt stößt sich an den gemeinen Bestrebungen unserer armen Menschennatur und möchte sie vergessen, um ein Europa der Phantasie zu schaffen, in welchem nur Friede und Gerechtig¬ keit wohnen." Carl Granville, der neue Minister des Auswärtigen, ist 1815 geboren, also ungefähr so alt wie Fürst Bismarck. 1840 und 1841 war er Unterstaats- secretär, 1851 kurze Zeit Staatssecretär des Aeußeren, welchen Posten er später von 1870—1874 wieder bekleidete, nachdem er zwei Jahre die Angelegenheiten der Colonien geleitet hatte. Er hat sich niemals als besonders starker Charakter mit festem Sinn und entschiedenen Grundsätzen bewährt, und seine äußere Politik war die schwächlichste, die England in diesem Jahrhundert gesehen hat. Wir möchten der ?all UM SaWtts darum uicht widersprechen, wenn sie die Ernennung des Lords mit folgenden Bedenken begrüßte: „Der Umstand, daß Lord Granville Minister für die auswärtigen Angelegenheiten geworden ist, wird von fremden Staatsmännern als Thatsache von ernster Bedeutung ange¬ sehen werden. Lord Hartington würde Herrn Gladstones eigenthümliche An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/454>, abgerufen am 22.07.2024.