Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Programme mit ihren gravitätischen und inhaltslosen Schulchroniken und ihren
stereotypen Einladungsphrasen -- einer von den mancherlei Zöpfen, die ohne
alle Scrupel aus der "guten alten Zeit" weitergeschleppt werden. Kein Ein¬
ziger von den Geladenen, selbst von den Lehrern nur ein Theil, vermag diesen
lateinischen, griechischen und hebräischen Ansprachen zu folgen. Höchstens gewährt
es den Leuten Vergnügen, ein Stündchen lang den verschiedenartigen fremden
Klängen zu lauschen, dann folgt am Schlüsse die stehende Unterhaltung der
anwesenden Damen, welches Idiom schöner geklungen habe, das Griechische
oder das Lateinische -- das ist alles. Wenn dieser Zopf endlich einmal weg¬
geschnitten würde, es wäre eine Wohlthat, vor allem für die Abiturienten selbst,
die in der Examenzeit durch andre Dinge wahrlich genug in Anspruch genom¬
men sind, und die unter vier Augen stets aufrichtig gestehen, daß sie viel mehr
die Last als die Ehre der Sache empfinden.

Was aber vom Valedictionsaetns gilt, das gilt in gleichem Maße von
einer andern "Schuleomoeclia" -- von den öffentlichen Prüfungen. Ueber den
Werth dieser Schaustellungen giebt sich wohl niemand einer Täuschung hin.
Der geschickte Faiseur paukt, Wenn's sein muß, binnen vierzehn Tagen seine
Schüler auf das Examen ein, und der Eindruck ist ein glänzender; der tüchtigste
Lehrer macht Fiasko, wenn ein derartiges Heraustreten an die Öffentlichkeit
seiner innersten Natur zuwider ist und er in Folge dessen den Kampf mit dem
Stoffe und den mit feiner Befangenheit gleichzeitig zu kämpfen hat. Der
Schauspieler tritt alle Tage aufs Theater, Lehrer und Schüler nur einmal im
Jahre -- wo soll die Uebung herkommen? Im Grunde ist es eine Brutalität,
einen so intimen Vorgang, wie den geistigen Rapport, der zwischen Lehrer und
Schüler während des Unterrichtes stattfindet, an die Öffentlichkeit zu zerren
und zum Gegenstande einer Schaustellung zu machen. Es ist erfreulich, daß
das Interesse des Publikums an diesen öffentlichen Prüfungen schon seit Jahren
im Rückgange begriffen ist. Wir können nicht über die Volksschule urtheilen,
auch nicht über die höheren Lehranstalten in kleinen Städten. Möglich, sogar
wahrscheinlich, daß die öffentlichen Examina dort aus naheliegenden Gründen
noch ein größeres Publikum herbeilocken. Am Gymnasium in der großen Stadt
aber liegen die Dinge so, daß zu den Prüfungen der untersten Klassen zwar
noch eine verhältnißmäßig große Schaar von Müttern herbeiströmt -- die
Frauen sind es ja, die auch bei diesem Schauspiel das größte Contingent stellen,
und die auch hier das Vergnügen der Aufregung suchen, welches in der fragen¬
den Erwartung besteht, ob der Junge "drankommen" wird oder nicht, ob der
Junge der Frau so und so eine Frage mehr zu beantworten wissen wird, als
der eigene. In den mittleren Klassen aber lichten sich die Zuschauerreihen bereits
ausfällig, und zu deu oberen Klassen verirrt sich höchstens noch ein beschüfti-


Programme mit ihren gravitätischen und inhaltslosen Schulchroniken und ihren
stereotypen Einladungsphrasen — einer von den mancherlei Zöpfen, die ohne
alle Scrupel aus der „guten alten Zeit" weitergeschleppt werden. Kein Ein¬
ziger von den Geladenen, selbst von den Lehrern nur ein Theil, vermag diesen
lateinischen, griechischen und hebräischen Ansprachen zu folgen. Höchstens gewährt
es den Leuten Vergnügen, ein Stündchen lang den verschiedenartigen fremden
Klängen zu lauschen, dann folgt am Schlüsse die stehende Unterhaltung der
anwesenden Damen, welches Idiom schöner geklungen habe, das Griechische
oder das Lateinische — das ist alles. Wenn dieser Zopf endlich einmal weg¬
geschnitten würde, es wäre eine Wohlthat, vor allem für die Abiturienten selbst,
die in der Examenzeit durch andre Dinge wahrlich genug in Anspruch genom¬
men sind, und die unter vier Augen stets aufrichtig gestehen, daß sie viel mehr
die Last als die Ehre der Sache empfinden.

Was aber vom Valedictionsaetns gilt, das gilt in gleichem Maße von
einer andern „Schuleomoeclia" — von den öffentlichen Prüfungen. Ueber den
Werth dieser Schaustellungen giebt sich wohl niemand einer Täuschung hin.
Der geschickte Faiseur paukt, Wenn's sein muß, binnen vierzehn Tagen seine
Schüler auf das Examen ein, und der Eindruck ist ein glänzender; der tüchtigste
Lehrer macht Fiasko, wenn ein derartiges Heraustreten an die Öffentlichkeit
seiner innersten Natur zuwider ist und er in Folge dessen den Kampf mit dem
Stoffe und den mit feiner Befangenheit gleichzeitig zu kämpfen hat. Der
Schauspieler tritt alle Tage aufs Theater, Lehrer und Schüler nur einmal im
Jahre — wo soll die Uebung herkommen? Im Grunde ist es eine Brutalität,
einen so intimen Vorgang, wie den geistigen Rapport, der zwischen Lehrer und
Schüler während des Unterrichtes stattfindet, an die Öffentlichkeit zu zerren
und zum Gegenstande einer Schaustellung zu machen. Es ist erfreulich, daß
das Interesse des Publikums an diesen öffentlichen Prüfungen schon seit Jahren
im Rückgange begriffen ist. Wir können nicht über die Volksschule urtheilen,
auch nicht über die höheren Lehranstalten in kleinen Städten. Möglich, sogar
wahrscheinlich, daß die öffentlichen Examina dort aus naheliegenden Gründen
noch ein größeres Publikum herbeilocken. Am Gymnasium in der großen Stadt
aber liegen die Dinge so, daß zu den Prüfungen der untersten Klassen zwar
noch eine verhältnißmäßig große Schaar von Müttern herbeiströmt — die
Frauen sind es ja, die auch bei diesem Schauspiel das größte Contingent stellen,
und die auch hier das Vergnügen der Aufregung suchen, welches in der fragen¬
den Erwartung besteht, ob der Junge „drankommen" wird oder nicht, ob der
Junge der Frau so und so eine Frage mehr zu beantworten wissen wird, als
der eigene. In den mittleren Klassen aber lichten sich die Zuschauerreihen bereits
ausfällig, und zu deu oberen Klassen verirrt sich höchstens noch ein beschüfti-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146541"/>
          <p xml:id="ID_85" prev="#ID_84"> Programme mit ihren gravitätischen und inhaltslosen Schulchroniken und ihren<lb/>
stereotypen Einladungsphrasen &#x2014; einer von den mancherlei Zöpfen, die ohne<lb/>
alle Scrupel aus der &#x201E;guten alten Zeit" weitergeschleppt werden. Kein Ein¬<lb/>
ziger von den Geladenen, selbst von den Lehrern nur ein Theil, vermag diesen<lb/>
lateinischen, griechischen und hebräischen Ansprachen zu folgen. Höchstens gewährt<lb/>
es den Leuten Vergnügen, ein Stündchen lang den verschiedenartigen fremden<lb/>
Klängen zu lauschen, dann folgt am Schlüsse die stehende Unterhaltung der<lb/>
anwesenden Damen, welches Idiom schöner geklungen habe, das Griechische<lb/>
oder das Lateinische &#x2014; das ist alles. Wenn dieser Zopf endlich einmal weg¬<lb/>
geschnitten würde, es wäre eine Wohlthat, vor allem für die Abiturienten selbst,<lb/>
die in der Examenzeit durch andre Dinge wahrlich genug in Anspruch genom¬<lb/>
men sind, und die unter vier Augen stets aufrichtig gestehen, daß sie viel mehr<lb/>
die Last als die Ehre der Sache empfinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_86" next="#ID_87"> Was aber vom Valedictionsaetns gilt, das gilt in gleichem Maße von<lb/>
einer andern &#x201E;Schuleomoeclia" &#x2014; von den öffentlichen Prüfungen. Ueber den<lb/>
Werth dieser Schaustellungen giebt sich wohl niemand einer Täuschung hin.<lb/>
Der geschickte Faiseur paukt, Wenn's sein muß, binnen vierzehn Tagen seine<lb/>
Schüler auf das Examen ein, und der Eindruck ist ein glänzender; der tüchtigste<lb/>
Lehrer macht Fiasko, wenn ein derartiges Heraustreten an die Öffentlichkeit<lb/>
seiner innersten Natur zuwider ist und er in Folge dessen den Kampf mit dem<lb/>
Stoffe und den mit feiner Befangenheit gleichzeitig zu kämpfen hat. Der<lb/>
Schauspieler tritt alle Tage aufs Theater, Lehrer und Schüler nur einmal im<lb/>
Jahre &#x2014; wo soll die Uebung herkommen? Im Grunde ist es eine Brutalität,<lb/>
einen so intimen Vorgang, wie den geistigen Rapport, der zwischen Lehrer und<lb/>
Schüler während des Unterrichtes stattfindet, an die Öffentlichkeit zu zerren<lb/>
und zum Gegenstande einer Schaustellung zu machen. Es ist erfreulich, daß<lb/>
das Interesse des Publikums an diesen öffentlichen Prüfungen schon seit Jahren<lb/>
im Rückgange begriffen ist. Wir können nicht über die Volksschule urtheilen,<lb/>
auch nicht über die höheren Lehranstalten in kleinen Städten. Möglich, sogar<lb/>
wahrscheinlich, daß die öffentlichen Examina dort aus naheliegenden Gründen<lb/>
noch ein größeres Publikum herbeilocken. Am Gymnasium in der großen Stadt<lb/>
aber liegen die Dinge so, daß zu den Prüfungen der untersten Klassen zwar<lb/>
noch eine verhältnißmäßig große Schaar von Müttern herbeiströmt &#x2014; die<lb/>
Frauen sind es ja, die auch bei diesem Schauspiel das größte Contingent stellen,<lb/>
und die auch hier das Vergnügen der Aufregung suchen, welches in der fragen¬<lb/>
den Erwartung besteht, ob der Junge &#x201E;drankommen" wird oder nicht, ob der<lb/>
Junge der Frau so und so eine Frage mehr zu beantworten wissen wird, als<lb/>
der eigene. In den mittleren Klassen aber lichten sich die Zuschauerreihen bereits<lb/>
ausfällig, und zu deu oberen Klassen verirrt sich höchstens noch ein beschüfti-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] Programme mit ihren gravitätischen und inhaltslosen Schulchroniken und ihren stereotypen Einladungsphrasen — einer von den mancherlei Zöpfen, die ohne alle Scrupel aus der „guten alten Zeit" weitergeschleppt werden. Kein Ein¬ ziger von den Geladenen, selbst von den Lehrern nur ein Theil, vermag diesen lateinischen, griechischen und hebräischen Ansprachen zu folgen. Höchstens gewährt es den Leuten Vergnügen, ein Stündchen lang den verschiedenartigen fremden Klängen zu lauschen, dann folgt am Schlüsse die stehende Unterhaltung der anwesenden Damen, welches Idiom schöner geklungen habe, das Griechische oder das Lateinische — das ist alles. Wenn dieser Zopf endlich einmal weg¬ geschnitten würde, es wäre eine Wohlthat, vor allem für die Abiturienten selbst, die in der Examenzeit durch andre Dinge wahrlich genug in Anspruch genom¬ men sind, und die unter vier Augen stets aufrichtig gestehen, daß sie viel mehr die Last als die Ehre der Sache empfinden. Was aber vom Valedictionsaetns gilt, das gilt in gleichem Maße von einer andern „Schuleomoeclia" — von den öffentlichen Prüfungen. Ueber den Werth dieser Schaustellungen giebt sich wohl niemand einer Täuschung hin. Der geschickte Faiseur paukt, Wenn's sein muß, binnen vierzehn Tagen seine Schüler auf das Examen ein, und der Eindruck ist ein glänzender; der tüchtigste Lehrer macht Fiasko, wenn ein derartiges Heraustreten an die Öffentlichkeit seiner innersten Natur zuwider ist und er in Folge dessen den Kampf mit dem Stoffe und den mit feiner Befangenheit gleichzeitig zu kämpfen hat. Der Schauspieler tritt alle Tage aufs Theater, Lehrer und Schüler nur einmal im Jahre — wo soll die Uebung herkommen? Im Grunde ist es eine Brutalität, einen so intimen Vorgang, wie den geistigen Rapport, der zwischen Lehrer und Schüler während des Unterrichtes stattfindet, an die Öffentlichkeit zu zerren und zum Gegenstande einer Schaustellung zu machen. Es ist erfreulich, daß das Interesse des Publikums an diesen öffentlichen Prüfungen schon seit Jahren im Rückgange begriffen ist. Wir können nicht über die Volksschule urtheilen, auch nicht über die höheren Lehranstalten in kleinen Städten. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß die öffentlichen Examina dort aus naheliegenden Gründen noch ein größeres Publikum herbeilocken. Am Gymnasium in der großen Stadt aber liegen die Dinge so, daß zu den Prüfungen der untersten Klassen zwar noch eine verhältnißmäßig große Schaar von Müttern herbeiströmt — die Frauen sind es ja, die auch bei diesem Schauspiel das größte Contingent stellen, und die auch hier das Vergnügen der Aufregung suchen, welches in der fragen¬ den Erwartung besteht, ob der Junge „drankommen" wird oder nicht, ob der Junge der Frau so und so eine Frage mehr zu beantworten wissen wird, als der eigene. In den mittleren Klassen aber lichten sich die Zuschauerreihen bereits ausfällig, und zu deu oberen Klassen verirrt sich höchstens noch ein beschüfti-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/36
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/36>, abgerufen am 03.07.2024.