Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum belgischen Jubiläum.

Binnen kurzem werden fünfzig Jahre verflossen sein, seit Belgien sich ge¬
waltsam von Holland losgerissen hat, mit dem es durch den Wiener Congreß
verbunden worden war.

Als sich im Jahre 1814 das holländische Volk mit großer Energie zu
Gunsten des Hauses Oranien ausgesprochen hatte, war diesem Fttrstengeschlechte,
das namentlich von den englischen Tories stark protegirt wurde, das Versprechen
einer bedeutenden Gebietserweiterung zu Theil geworden. Wir finden diese
Zusage im 6. Artikel des Pariser Vertrags vom 30. Mai des ebengenannten
Jahres, wo es heißt: "Holland, unter die Souveränetät des Hauses Oranien
gestellt, wird einen Gebietszuwachs erhalten."

Dieser Artikel oder vielmehr die Art und Weise, auf welche man ihn einer¬
seits in Holland, andererseits in Belgien interpretirte, rief die Revolution her¬
vor, die 1830 in Brüssel ausbrach. Die Holländer hatten das Unglück, Belgien
gewissermaßen als eine neue Colonie, als Anhängsel zu betrachten, das man
ihnen zum Geschenke gemacht, und indem sie auf die eventuelle Unterstützung
Europas rechneten, versuchten sie daselbst ihre Herrschaft zu begründen. In
Folge dieses Versuches zerfiel das vereinigte Königreich.

Die Belgier zählten ungefähr vier, die Holländer nur zwei Millionen Seelen.
Wenn die Belgier in Wirklichkeit unter denen gestanden hätten, die sich als ihre
Herren geltend zu machen beabsichtigten, wenn die Holländer ihnen an Intelli¬
genz überlegen, in der Civilisation weiter fortgeschritten gewesen wären, wenn
sie mehr materielle Kraft, mehr Ansehen, wenn sie mit einem Worte Ursache
gehabt hätten, sich für das vornehmere der beiden Völker zu halten, so wäre
ihr Ehrgeiz zu begreifen gewesen, und sie würden mit ihrer Politik vielleicht
Erfolg gehabt haben. Aber jene Voraussetzungen trafen nicht zu. Belgien hatte
lange Zeit Unglück gehabt, es hatte die Demüthigung erlebt, unter fremde
Monarchen gestellt zu sein, die es durch einfache Statthalter verwalten ließen.
Aber das Land hatte in allen diesen traurigen Zeiten sich sehr beachtenswerthe


Grenzboten II. 1380. 39
Zum belgischen Jubiläum.

Binnen kurzem werden fünfzig Jahre verflossen sein, seit Belgien sich ge¬
waltsam von Holland losgerissen hat, mit dem es durch den Wiener Congreß
verbunden worden war.

Als sich im Jahre 1814 das holländische Volk mit großer Energie zu
Gunsten des Hauses Oranien ausgesprochen hatte, war diesem Fttrstengeschlechte,
das namentlich von den englischen Tories stark protegirt wurde, das Versprechen
einer bedeutenden Gebietserweiterung zu Theil geworden. Wir finden diese
Zusage im 6. Artikel des Pariser Vertrags vom 30. Mai des ebengenannten
Jahres, wo es heißt: „Holland, unter die Souveränetät des Hauses Oranien
gestellt, wird einen Gebietszuwachs erhalten."

Dieser Artikel oder vielmehr die Art und Weise, auf welche man ihn einer¬
seits in Holland, andererseits in Belgien interpretirte, rief die Revolution her¬
vor, die 1830 in Brüssel ausbrach. Die Holländer hatten das Unglück, Belgien
gewissermaßen als eine neue Colonie, als Anhängsel zu betrachten, das man
ihnen zum Geschenke gemacht, und indem sie auf die eventuelle Unterstützung
Europas rechneten, versuchten sie daselbst ihre Herrschaft zu begründen. In
Folge dieses Versuches zerfiel das vereinigte Königreich.

Die Belgier zählten ungefähr vier, die Holländer nur zwei Millionen Seelen.
Wenn die Belgier in Wirklichkeit unter denen gestanden hätten, die sich als ihre
Herren geltend zu machen beabsichtigten, wenn die Holländer ihnen an Intelli¬
genz überlegen, in der Civilisation weiter fortgeschritten gewesen wären, wenn
sie mehr materielle Kraft, mehr Ansehen, wenn sie mit einem Worte Ursache
gehabt hätten, sich für das vornehmere der beiden Völker zu halten, so wäre
ihr Ehrgeiz zu begreifen gewesen, und sie würden mit ihrer Politik vielleicht
Erfolg gehabt haben. Aber jene Voraussetzungen trafen nicht zu. Belgien hatte
lange Zeit Unglück gehabt, es hatte die Demüthigung erlebt, unter fremde
Monarchen gestellt zu sein, die es durch einfache Statthalter verwalten ließen.
Aber das Land hatte in allen diesen traurigen Zeiten sich sehr beachtenswerthe


Grenzboten II. 1380. 39
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146814"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zum belgischen Jubiläum.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_911"> Binnen kurzem werden fünfzig Jahre verflossen sein, seit Belgien sich ge¬<lb/>
waltsam von Holland losgerissen hat, mit dem es durch den Wiener Congreß<lb/>
verbunden worden war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_912"> Als sich im Jahre 1814 das holländische Volk mit großer Energie zu<lb/>
Gunsten des Hauses Oranien ausgesprochen hatte, war diesem Fttrstengeschlechte,<lb/>
das namentlich von den englischen Tories stark protegirt wurde, das Versprechen<lb/>
einer bedeutenden Gebietserweiterung zu Theil geworden. Wir finden diese<lb/>
Zusage im 6. Artikel des Pariser Vertrags vom 30. Mai des ebengenannten<lb/>
Jahres, wo es heißt: &#x201E;Holland, unter die Souveränetät des Hauses Oranien<lb/>
gestellt, wird einen Gebietszuwachs erhalten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_913"> Dieser Artikel oder vielmehr die Art und Weise, auf welche man ihn einer¬<lb/>
seits in Holland, andererseits in Belgien interpretirte, rief die Revolution her¬<lb/>
vor, die 1830 in Brüssel ausbrach. Die Holländer hatten das Unglück, Belgien<lb/>
gewissermaßen als eine neue Colonie, als Anhängsel zu betrachten, das man<lb/>
ihnen zum Geschenke gemacht, und indem sie auf die eventuelle Unterstützung<lb/>
Europas rechneten, versuchten sie daselbst ihre Herrschaft zu begründen. In<lb/>
Folge dieses Versuches zerfiel das vereinigte Königreich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_914" next="#ID_915"> Die Belgier zählten ungefähr vier, die Holländer nur zwei Millionen Seelen.<lb/>
Wenn die Belgier in Wirklichkeit unter denen gestanden hätten, die sich als ihre<lb/>
Herren geltend zu machen beabsichtigten, wenn die Holländer ihnen an Intelli¬<lb/>
genz überlegen, in der Civilisation weiter fortgeschritten gewesen wären, wenn<lb/>
sie mehr materielle Kraft, mehr Ansehen, wenn sie mit einem Worte Ursache<lb/>
gehabt hätten, sich für das vornehmere der beiden Völker zu halten, so wäre<lb/>
ihr Ehrgeiz zu begreifen gewesen, und sie würden mit ihrer Politik vielleicht<lb/>
Erfolg gehabt haben. Aber jene Voraussetzungen trafen nicht zu. Belgien hatte<lb/>
lange Zeit Unglück gehabt, es hatte die Demüthigung erlebt, unter fremde<lb/>
Monarchen gestellt zu sein, die es durch einfache Statthalter verwalten ließen.<lb/>
Aber das Land hatte in allen diesen traurigen Zeiten sich sehr beachtenswerthe</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1380. 39</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0309] Zum belgischen Jubiläum. Binnen kurzem werden fünfzig Jahre verflossen sein, seit Belgien sich ge¬ waltsam von Holland losgerissen hat, mit dem es durch den Wiener Congreß verbunden worden war. Als sich im Jahre 1814 das holländische Volk mit großer Energie zu Gunsten des Hauses Oranien ausgesprochen hatte, war diesem Fttrstengeschlechte, das namentlich von den englischen Tories stark protegirt wurde, das Versprechen einer bedeutenden Gebietserweiterung zu Theil geworden. Wir finden diese Zusage im 6. Artikel des Pariser Vertrags vom 30. Mai des ebengenannten Jahres, wo es heißt: „Holland, unter die Souveränetät des Hauses Oranien gestellt, wird einen Gebietszuwachs erhalten." Dieser Artikel oder vielmehr die Art und Weise, auf welche man ihn einer¬ seits in Holland, andererseits in Belgien interpretirte, rief die Revolution her¬ vor, die 1830 in Brüssel ausbrach. Die Holländer hatten das Unglück, Belgien gewissermaßen als eine neue Colonie, als Anhängsel zu betrachten, das man ihnen zum Geschenke gemacht, und indem sie auf die eventuelle Unterstützung Europas rechneten, versuchten sie daselbst ihre Herrschaft zu begründen. In Folge dieses Versuches zerfiel das vereinigte Königreich. Die Belgier zählten ungefähr vier, die Holländer nur zwei Millionen Seelen. Wenn die Belgier in Wirklichkeit unter denen gestanden hätten, die sich als ihre Herren geltend zu machen beabsichtigten, wenn die Holländer ihnen an Intelli¬ genz überlegen, in der Civilisation weiter fortgeschritten gewesen wären, wenn sie mehr materielle Kraft, mehr Ansehen, wenn sie mit einem Worte Ursache gehabt hätten, sich für das vornehmere der beiden Völker zu halten, so wäre ihr Ehrgeiz zu begreifen gewesen, und sie würden mit ihrer Politik vielleicht Erfolg gehabt haben. Aber jene Voraussetzungen trafen nicht zu. Belgien hatte lange Zeit Unglück gehabt, es hatte die Demüthigung erlebt, unter fremde Monarchen gestellt zu sein, die es durch einfache Statthalter verwalten ließen. Aber das Land hatte in allen diesen traurigen Zeiten sich sehr beachtenswerthe Grenzboten II. 1380. 39

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/309
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/309>, abgerufen am 26.06.2024.