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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Weltspiegelung erhebt sie sich in der Selbstspiegelung des Glaubens. Als Glied
der Welt fühlt sie sich in den Wirbel der Atome hineingezogen, eine schwindende
Welle im Ocean; in Gott weiß sie sich unvergänglich und frei, triumphirt sie
über die Nacht des Todes.

Es ist "Das geistliche Jahr", ein umfassender Cyklus von Gedichten, den
Sonntagen und hohen Festen des Kirchenjahrs geweiht, in dein wir den Aus¬
druck der religiösen Gesammtanschauung der Dichterin erkennen. Wohl wird
auch hier die Stimme der Klage laut über die Nichtigkeit des Erdenseins, wohl
legt sich auch hier schwer lastend das Räthsel des Lebens auf das von Zweifeln
erschütterte Herz, und nicht immer will es tagen. Oft muß sie sich losreißen
und vor den verwirrenden Fragen das Auge schließen, der Ewigkeit gedenkend,
welche alle Räthsel löst; aber es fehlt auch nicht die Stimme des Frohlockens,
die hoffend und vertrauend sich der göttlichen Gnade und Leitung ergiebt. Doch
ist allerdings der Grundton auch dieser Gedichte nicht die Gewißheit des Glau¬
bens, sondern das Ringen und Kämpfen um ihn. Das Wort des Heilandes:
"Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt thun, reißen es an sich" --
in der religiösen Gemüthswelt der Dichterin ist es volle Wirklichkeit geworden. --

Es bleibt uns schließlich noch die Aufgabe, die Gestalt des äußeren Lebens
der Dichterin ins Auge zu fassen, und zu sehen, ob es uns einen Schlüssel zum
Verständniß ihrer inneren Physiognomie darbietet.*) Und in der That in mannig¬
facher Hinsicht können wir eine Beziehung zwischen dem Boden, auf dem sie
erwuchs, den Verhältnissen, welche auf sie wirkten, ja auch zwischen den körper¬
lichen Bedingungen ihres Daseins und ihrem Seelen- und Gemüthsleben auf¬
weisen.

Die Familie, der Annette entstammte, zählt zu den angesehensten altadlichen
Geschlechtern des Münsterlandes. Schönheit der Erscheinung war ein Erb¬
gut des Hauses. Künstlerische Begabung zeigte sich mehrfach in den letzten
Generationen. Annelees Mutter gehörte der Familie von Haxthausen an; der
wissenschaftlich ausgezeichnete Freiherr August von Haxthausen war ihr Bruder.
Am 10. Januar 1797 wurde Anna Elisabeth Franziska Adolphine Wilhelmine
Luise Maria Freiin von Droste auf dem Erbgute Hülshoff geboren, ein schwäch¬
liches, nur durch große Sorgfalt erhaltenes Kind. Die Erziehung, die wesent¬
lich in der Hand der Mutter lag, war eine ziemlich strenge. Die große, krank¬
haft erscheinende Lebhaftigkeit des Kindes suchte die Mutter zu zügeln. Der
Unterricht begann früh, die elementaren Disciplinen lehrte die Mutter selbst;
dann nahm Annette an dem wissenschaftlichen Unterrichte Theil, den die Brüder



*) Wir folgen dabei in erster Linie der ausgezeichneten biographischen Charakteristik,
mit der Levin Schücking die Herausgabe ihrer Schriften eingeleitet hat.

Weltspiegelung erhebt sie sich in der Selbstspiegelung des Glaubens. Als Glied
der Welt fühlt sie sich in den Wirbel der Atome hineingezogen, eine schwindende
Welle im Ocean; in Gott weiß sie sich unvergänglich und frei, triumphirt sie
über die Nacht des Todes.

Es ist „Das geistliche Jahr", ein umfassender Cyklus von Gedichten, den
Sonntagen und hohen Festen des Kirchenjahrs geweiht, in dein wir den Aus¬
druck der religiösen Gesammtanschauung der Dichterin erkennen. Wohl wird
auch hier die Stimme der Klage laut über die Nichtigkeit des Erdenseins, wohl
legt sich auch hier schwer lastend das Räthsel des Lebens auf das von Zweifeln
erschütterte Herz, und nicht immer will es tagen. Oft muß sie sich losreißen
und vor den verwirrenden Fragen das Auge schließen, der Ewigkeit gedenkend,
welche alle Räthsel löst; aber es fehlt auch nicht die Stimme des Frohlockens,
die hoffend und vertrauend sich der göttlichen Gnade und Leitung ergiebt. Doch
ist allerdings der Grundton auch dieser Gedichte nicht die Gewißheit des Glau¬
bens, sondern das Ringen und Kämpfen um ihn. Das Wort des Heilandes:
„Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt thun, reißen es an sich" —
in der religiösen Gemüthswelt der Dichterin ist es volle Wirklichkeit geworden. —

Es bleibt uns schließlich noch die Aufgabe, die Gestalt des äußeren Lebens
der Dichterin ins Auge zu fassen, und zu sehen, ob es uns einen Schlüssel zum
Verständniß ihrer inneren Physiognomie darbietet.*) Und in der That in mannig¬
facher Hinsicht können wir eine Beziehung zwischen dem Boden, auf dem sie
erwuchs, den Verhältnissen, welche auf sie wirkten, ja auch zwischen den körper¬
lichen Bedingungen ihres Daseins und ihrem Seelen- und Gemüthsleben auf¬
weisen.

Die Familie, der Annette entstammte, zählt zu den angesehensten altadlichen
Geschlechtern des Münsterlandes. Schönheit der Erscheinung war ein Erb¬
gut des Hauses. Künstlerische Begabung zeigte sich mehrfach in den letzten
Generationen. Annelees Mutter gehörte der Familie von Haxthausen an; der
wissenschaftlich ausgezeichnete Freiherr August von Haxthausen war ihr Bruder.
Am 10. Januar 1797 wurde Anna Elisabeth Franziska Adolphine Wilhelmine
Luise Maria Freiin von Droste auf dem Erbgute Hülshoff geboren, ein schwäch¬
liches, nur durch große Sorgfalt erhaltenes Kind. Die Erziehung, die wesent¬
lich in der Hand der Mutter lag, war eine ziemlich strenge. Die große, krank¬
haft erscheinende Lebhaftigkeit des Kindes suchte die Mutter zu zügeln. Der
Unterricht begann früh, die elementaren Disciplinen lehrte die Mutter selbst;
dann nahm Annette an dem wissenschaftlichen Unterrichte Theil, den die Brüder



*) Wir folgen dabei in erster Linie der ausgezeichneten biographischen Charakteristik,
mit der Levin Schücking die Herausgabe ihrer Schriften eingeleitet hat.
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[0279] Weltspiegelung erhebt sie sich in der Selbstspiegelung des Glaubens. Als Glied der Welt fühlt sie sich in den Wirbel der Atome hineingezogen, eine schwindende Welle im Ocean; in Gott weiß sie sich unvergänglich und frei, triumphirt sie über die Nacht des Todes. Es ist „Das geistliche Jahr", ein umfassender Cyklus von Gedichten, den Sonntagen und hohen Festen des Kirchenjahrs geweiht, in dein wir den Aus¬ druck der religiösen Gesammtanschauung der Dichterin erkennen. Wohl wird auch hier die Stimme der Klage laut über die Nichtigkeit des Erdenseins, wohl legt sich auch hier schwer lastend das Räthsel des Lebens auf das von Zweifeln erschütterte Herz, und nicht immer will es tagen. Oft muß sie sich losreißen und vor den verwirrenden Fragen das Auge schließen, der Ewigkeit gedenkend, welche alle Räthsel löst; aber es fehlt auch nicht die Stimme des Frohlockens, die hoffend und vertrauend sich der göttlichen Gnade und Leitung ergiebt. Doch ist allerdings der Grundton auch dieser Gedichte nicht die Gewißheit des Glau¬ bens, sondern das Ringen und Kämpfen um ihn. Das Wort des Heilandes: „Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt thun, reißen es an sich" — in der religiösen Gemüthswelt der Dichterin ist es volle Wirklichkeit geworden. — Es bleibt uns schließlich noch die Aufgabe, die Gestalt des äußeren Lebens der Dichterin ins Auge zu fassen, und zu sehen, ob es uns einen Schlüssel zum Verständniß ihrer inneren Physiognomie darbietet.*) Und in der That in mannig¬ facher Hinsicht können wir eine Beziehung zwischen dem Boden, auf dem sie erwuchs, den Verhältnissen, welche auf sie wirkten, ja auch zwischen den körper¬ lichen Bedingungen ihres Daseins und ihrem Seelen- und Gemüthsleben auf¬ weisen. Die Familie, der Annette entstammte, zählt zu den angesehensten altadlichen Geschlechtern des Münsterlandes. Schönheit der Erscheinung war ein Erb¬ gut des Hauses. Künstlerische Begabung zeigte sich mehrfach in den letzten Generationen. Annelees Mutter gehörte der Familie von Haxthausen an; der wissenschaftlich ausgezeichnete Freiherr August von Haxthausen war ihr Bruder. Am 10. Januar 1797 wurde Anna Elisabeth Franziska Adolphine Wilhelmine Luise Maria Freiin von Droste auf dem Erbgute Hülshoff geboren, ein schwäch¬ liches, nur durch große Sorgfalt erhaltenes Kind. Die Erziehung, die wesent¬ lich in der Hand der Mutter lag, war eine ziemlich strenge. Die große, krank¬ haft erscheinende Lebhaftigkeit des Kindes suchte die Mutter zu zügeln. Der Unterricht begann früh, die elementaren Disciplinen lehrte die Mutter selbst; dann nahm Annette an dem wissenschaftlichen Unterrichte Theil, den die Brüder *) Wir folgen dabei in erster Linie der ausgezeichneten biographischen Charakteristik, mit der Levin Schücking die Herausgabe ihrer Schriften eingeleitet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/279>, abgerufen am 29.06.2024.