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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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gewesen. Sie hat uns zeigen wollen, welche Einwirkung auf das Gemiithsleben
derartige Erlebnisse hervorzubringen vermögen. Aber sind psychiatrische Probleme
geeignete Themata für poetische Bearbeitung?

Sympathisch berührt uns anch durch ihren Inhalt die leider -- ohne
Schuld des Herausgebers ihrer Schriften -- nur als Fragment uns zugäng¬
liche Erzählung "Das Hospiz auf dem großen Se. Bernhard". Die Handlung
ist sehr einfach. Ein Greis, der mit seinem Enkel eine Alpenspitze erstiegen hat,
verirrt sich auf dem Heimwege. Die Nacht überrascht ihn. Die Versuche, das
Hospiz zu erreichen, schlagen fehl. Erschöpft sinken die Wanderer nieder, wie es
scheint, eine sichere Beute des Todes. Aber die rettende Hand ist ihnen nahe.
Der Hund Barry findet das Kind und trägt es zum Hospiz. Und nun unter¬
nehmen es die Mönche in nächtlicher Stunde unter furchtbaren Gefahren, den
Begleiter des Kindes zu suchen. Nach langen, vergeblichen Bemühungen gelingt
es endlich, durch Barrys Hilfe. Der Greis wird zum Kloster getragen, aber,
dem Anschein nach, als Leiche. Alle Versuche, das Lebe" zurückzurufen, bleiben
erfolglos. Es wird ein Bote gesandt, Tochter und Schwiegersohn zu benach¬
richtigen, die eben zur Feier eines ländlichen Festes sich bereiten. Tief erschüt¬
tert eilen sie zum Hospiz. Damit endet das Gedicht, dessen nicht veröffentlichter
Fortgang schildert, wie schließlich doch durch die Pflege der Mönche der Greis
gerettet wird.

Die Dichterin weiß uns von Anfang bis zum Schluß in Spannung zu
erhalten. Der Wechsel von Furcht und Hoffnung in der Seele des Großvaters,
das naive, die Gefahr nicht ahnende Kind, die selbstaufopfernde Thätigkeit der
Mönche, dazu der Rahme" der Alpenwelt in ihrer erhabenen Größe und ihrer
wilden, schauervollen Gewalt, das sind Bilder, die, mit fester Hand und mit
lebendiger Anschaulichkeit gezeichnet, das Gemüth aufs tiefste bewegen. Wir
würden nichts auszusetzen haben, wenn die eigenthümliche Neigung der Dichterin
zum Grauenhaften uns nicht eine Scene vorgeführt hätte, vor der wir am
liebsten die Augen verschließen: Die Verirrten flüchten sich in ein Gewölbe,
wo die Leichen Verunglückter, deren Ursprung unbekannt geblieben ist, aufbe¬
wahrt werden. In der Kleidung, die sie im Augenblick des Todes bedeckte,
ruhen sie hier in Nischen, an die Wand gelehnt. In diesen Kreis treten nun
die Wanderer ein. Das Kind glaubt sich unter Schläfern zu befinden, aber
der Greis weiß sich an der Stätte des Todes, und Schauer erfüllen ihn. Un¬
heimlich beleuchtet einfallendes Mondeslicht die bleichen Gesichter, die gespenster¬
haft bald sich zu heben, bald zurückzusinken scheinen. Und nun das Gräßlichste.
Während der erschöpfte Greis vom Schlummer überrascht wird, wandert das
Kind durch die Halle und bleibt vor einem Todten stehen, in welchem es seinen
schlafenden Vater zu erkennen glaubt. Sein wimmernder Ruf: "Mein Vater,


gewesen. Sie hat uns zeigen wollen, welche Einwirkung auf das Gemiithsleben
derartige Erlebnisse hervorzubringen vermögen. Aber sind psychiatrische Probleme
geeignete Themata für poetische Bearbeitung?

Sympathisch berührt uns anch durch ihren Inhalt die leider — ohne
Schuld des Herausgebers ihrer Schriften — nur als Fragment uns zugäng¬
liche Erzählung „Das Hospiz auf dem großen Se. Bernhard". Die Handlung
ist sehr einfach. Ein Greis, der mit seinem Enkel eine Alpenspitze erstiegen hat,
verirrt sich auf dem Heimwege. Die Nacht überrascht ihn. Die Versuche, das
Hospiz zu erreichen, schlagen fehl. Erschöpft sinken die Wanderer nieder, wie es
scheint, eine sichere Beute des Todes. Aber die rettende Hand ist ihnen nahe.
Der Hund Barry findet das Kind und trägt es zum Hospiz. Und nun unter¬
nehmen es die Mönche in nächtlicher Stunde unter furchtbaren Gefahren, den
Begleiter des Kindes zu suchen. Nach langen, vergeblichen Bemühungen gelingt
es endlich, durch Barrys Hilfe. Der Greis wird zum Kloster getragen, aber,
dem Anschein nach, als Leiche. Alle Versuche, das Lebe» zurückzurufen, bleiben
erfolglos. Es wird ein Bote gesandt, Tochter und Schwiegersohn zu benach¬
richtigen, die eben zur Feier eines ländlichen Festes sich bereiten. Tief erschüt¬
tert eilen sie zum Hospiz. Damit endet das Gedicht, dessen nicht veröffentlichter
Fortgang schildert, wie schließlich doch durch die Pflege der Mönche der Greis
gerettet wird.

Die Dichterin weiß uns von Anfang bis zum Schluß in Spannung zu
erhalten. Der Wechsel von Furcht und Hoffnung in der Seele des Großvaters,
das naive, die Gefahr nicht ahnende Kind, die selbstaufopfernde Thätigkeit der
Mönche, dazu der Rahme» der Alpenwelt in ihrer erhabenen Größe und ihrer
wilden, schauervollen Gewalt, das sind Bilder, die, mit fester Hand und mit
lebendiger Anschaulichkeit gezeichnet, das Gemüth aufs tiefste bewegen. Wir
würden nichts auszusetzen haben, wenn die eigenthümliche Neigung der Dichterin
zum Grauenhaften uns nicht eine Scene vorgeführt hätte, vor der wir am
liebsten die Augen verschließen: Die Verirrten flüchten sich in ein Gewölbe,
wo die Leichen Verunglückter, deren Ursprung unbekannt geblieben ist, aufbe¬
wahrt werden. In der Kleidung, die sie im Augenblick des Todes bedeckte,
ruhen sie hier in Nischen, an die Wand gelehnt. In diesen Kreis treten nun
die Wanderer ein. Das Kind glaubt sich unter Schläfern zu befinden, aber
der Greis weiß sich an der Stätte des Todes, und Schauer erfüllen ihn. Un¬
heimlich beleuchtet einfallendes Mondeslicht die bleichen Gesichter, die gespenster¬
haft bald sich zu heben, bald zurückzusinken scheinen. Und nun das Gräßlichste.
Während der erschöpfte Greis vom Schlummer überrascht wird, wandert das
Kind durch die Halle und bleibt vor einem Todten stehen, in welchem es seinen
schlafenden Vater zu erkennen glaubt. Sein wimmernder Ruf: „Mein Vater,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/258>, abgerufen am 22.07.2024.