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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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land Zeit hätte, die Grenze zur Hilfsleistung zu überschreiten. England hatte
bisher Alles gethan, um sich seine politischen Verbündeten, die Pforte, Persien
und Afghanistan, zu entfremden. Erst in der neuesten Zeit, seit 1878 hat es
in andere Bahnen eingelenkt, und zwar mit gewissem Erfolge. Daß aber endlich
in der asiatischen Türkei, wo Rußland in Batna, Kars, Ardahan schon festen
Fuß gefaßt hat, und wohin es leicht eine gewaltige Feldarmee werfen kann,
England, selbst im Bündniß mit der Türkei, an Rußland einen ebenbürtigen,
wenn nicht überlegenen Gegner finden werde, wer möchte das bei Kenntniß
des Landes und der Verhältnisse bezweifeln?

Nur wenn Rußland die deutsch-österreichische Politik im Orient durchkreuzen
will und sich mit Deutschland und Oesterreich auf feindlichem Fuß stellt, oder
gar kindisch genug sein sollte, französische Revanchegelüste zu unterstützen, nur
dann kann Rußland im Orient und in dem nothwendig den Verhältnissen ent¬
sprechenden Entwicklungsgange seiner asiatischen Politik mattgesetzt werden. Das
Festhalten an der Politik des Dreikaiserbundes ist Rußlands politische Nöthi¬
gung und Consequenz. Bei aller Kraft wäre Rußland einer österreichisch-englisch¬
türkischen Combination gegenüber machtlos.

Aber diese Dreikaiserpolitik, wenn sie keine leere Phrase sein soll, fordert
auch Opfer von Rußland, nämlich endgiltiges Aufgeben der Träumereien von
einem europäischen Slavengroßstaat mit Stambul als Spitze. Rußland ist nicht
im Stande, die Balkanhalbinsel zu civilisiren, weil dort die Cultur schon jetzt ans
der Höhe der durchschnittlichen Bildung der russischen Provinzen steht. Das ist
Oesterreichs Aufgabe. Oesterreich hätte dagegen Rußland in Asien sreie Hand
zu lassen. Sollten die Interessen der Mittelmeerstaaten, zu welchen alsdann
auch Oesterreich gehören würde, nicht gestatten, Rußlands Macht über die Küsten
Kleinasiens und Syriens bis an das Mittelmeer auszudehnen, so würde sich
auch dies ohne besonderen Nachtheil für Rußland ertragen lassen, indem seine
Grenze von den Küsten etwas abgehalten würde.

Die großartigen Schätze des Orients an materiellem, physischem und
geistigem Gut zu entwickeln und auf den Weltmarkt des Lebens zu führen,
das ist die dankbare Aufgabe unseres großen Nachbars im Osten. Daß die
Durchführung dieser Aufgabe und der Aufschwung des Welthandels, nachdem
die gesicherten Handelsstraßen und Schienenwege durch Nußland nach Asien
führen, auch für das deutsche Reich von unschätzbarer Wichtigkeit sein werden,
dafür bürgt uns das fernere Fortbestehen des von unserem Kaiserhause divina-
torisch hochgehaltenen Freundschaftsbündnisses mit dem Zarenthrone an der
Newa. Die germanische und die slavische Civilisation haben zwar gesonderte
Ziele, aber keine conträren; dagegen richten sich beide gegen die von England
kürzlich aufgenommenen Aspirationen, englisches, indisches und orientalisch-tartarisches


land Zeit hätte, die Grenze zur Hilfsleistung zu überschreiten. England hatte
bisher Alles gethan, um sich seine politischen Verbündeten, die Pforte, Persien
und Afghanistan, zu entfremden. Erst in der neuesten Zeit, seit 1878 hat es
in andere Bahnen eingelenkt, und zwar mit gewissem Erfolge. Daß aber endlich
in der asiatischen Türkei, wo Rußland in Batna, Kars, Ardahan schon festen
Fuß gefaßt hat, und wohin es leicht eine gewaltige Feldarmee werfen kann,
England, selbst im Bündniß mit der Türkei, an Rußland einen ebenbürtigen,
wenn nicht überlegenen Gegner finden werde, wer möchte das bei Kenntniß
des Landes und der Verhältnisse bezweifeln?

Nur wenn Rußland die deutsch-österreichische Politik im Orient durchkreuzen
will und sich mit Deutschland und Oesterreich auf feindlichem Fuß stellt, oder
gar kindisch genug sein sollte, französische Revanchegelüste zu unterstützen, nur
dann kann Rußland im Orient und in dem nothwendig den Verhältnissen ent¬
sprechenden Entwicklungsgange seiner asiatischen Politik mattgesetzt werden. Das
Festhalten an der Politik des Dreikaiserbundes ist Rußlands politische Nöthi¬
gung und Consequenz. Bei aller Kraft wäre Rußland einer österreichisch-englisch¬
türkischen Combination gegenüber machtlos.

Aber diese Dreikaiserpolitik, wenn sie keine leere Phrase sein soll, fordert
auch Opfer von Rußland, nämlich endgiltiges Aufgeben der Träumereien von
einem europäischen Slavengroßstaat mit Stambul als Spitze. Rußland ist nicht
im Stande, die Balkanhalbinsel zu civilisiren, weil dort die Cultur schon jetzt ans
der Höhe der durchschnittlichen Bildung der russischen Provinzen steht. Das ist
Oesterreichs Aufgabe. Oesterreich hätte dagegen Rußland in Asien sreie Hand
zu lassen. Sollten die Interessen der Mittelmeerstaaten, zu welchen alsdann
auch Oesterreich gehören würde, nicht gestatten, Rußlands Macht über die Küsten
Kleinasiens und Syriens bis an das Mittelmeer auszudehnen, so würde sich
auch dies ohne besonderen Nachtheil für Rußland ertragen lassen, indem seine
Grenze von den Küsten etwas abgehalten würde.

Die großartigen Schätze des Orients an materiellem, physischem und
geistigem Gut zu entwickeln und auf den Weltmarkt des Lebens zu führen,
das ist die dankbare Aufgabe unseres großen Nachbars im Osten. Daß die
Durchführung dieser Aufgabe und der Aufschwung des Welthandels, nachdem
die gesicherten Handelsstraßen und Schienenwege durch Nußland nach Asien
führen, auch für das deutsche Reich von unschätzbarer Wichtigkeit sein werden,
dafür bürgt uns das fernere Fortbestehen des von unserem Kaiserhause divina-
torisch hochgehaltenen Freundschaftsbündnisses mit dem Zarenthrone an der
Newa. Die germanische und die slavische Civilisation haben zwar gesonderte
Ziele, aber keine conträren; dagegen richten sich beide gegen die von England
kürzlich aufgenommenen Aspirationen, englisches, indisches und orientalisch-tartarisches


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[0247] land Zeit hätte, die Grenze zur Hilfsleistung zu überschreiten. England hatte bisher Alles gethan, um sich seine politischen Verbündeten, die Pforte, Persien und Afghanistan, zu entfremden. Erst in der neuesten Zeit, seit 1878 hat es in andere Bahnen eingelenkt, und zwar mit gewissem Erfolge. Daß aber endlich in der asiatischen Türkei, wo Rußland in Batna, Kars, Ardahan schon festen Fuß gefaßt hat, und wohin es leicht eine gewaltige Feldarmee werfen kann, England, selbst im Bündniß mit der Türkei, an Rußland einen ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Gegner finden werde, wer möchte das bei Kenntniß des Landes und der Verhältnisse bezweifeln? Nur wenn Rußland die deutsch-österreichische Politik im Orient durchkreuzen will und sich mit Deutschland und Oesterreich auf feindlichem Fuß stellt, oder gar kindisch genug sein sollte, französische Revanchegelüste zu unterstützen, nur dann kann Rußland im Orient und in dem nothwendig den Verhältnissen ent¬ sprechenden Entwicklungsgange seiner asiatischen Politik mattgesetzt werden. Das Festhalten an der Politik des Dreikaiserbundes ist Rußlands politische Nöthi¬ gung und Consequenz. Bei aller Kraft wäre Rußland einer österreichisch-englisch¬ türkischen Combination gegenüber machtlos. Aber diese Dreikaiserpolitik, wenn sie keine leere Phrase sein soll, fordert auch Opfer von Rußland, nämlich endgiltiges Aufgeben der Träumereien von einem europäischen Slavengroßstaat mit Stambul als Spitze. Rußland ist nicht im Stande, die Balkanhalbinsel zu civilisiren, weil dort die Cultur schon jetzt ans der Höhe der durchschnittlichen Bildung der russischen Provinzen steht. Das ist Oesterreichs Aufgabe. Oesterreich hätte dagegen Rußland in Asien sreie Hand zu lassen. Sollten die Interessen der Mittelmeerstaaten, zu welchen alsdann auch Oesterreich gehören würde, nicht gestatten, Rußlands Macht über die Küsten Kleinasiens und Syriens bis an das Mittelmeer auszudehnen, so würde sich auch dies ohne besonderen Nachtheil für Rußland ertragen lassen, indem seine Grenze von den Küsten etwas abgehalten würde. Die großartigen Schätze des Orients an materiellem, physischem und geistigem Gut zu entwickeln und auf den Weltmarkt des Lebens zu führen, das ist die dankbare Aufgabe unseres großen Nachbars im Osten. Daß die Durchführung dieser Aufgabe und der Aufschwung des Welthandels, nachdem die gesicherten Handelsstraßen und Schienenwege durch Nußland nach Asien führen, auch für das deutsche Reich von unschätzbarer Wichtigkeit sein werden, dafür bürgt uns das fernere Fortbestehen des von unserem Kaiserhause divina- torisch hochgehaltenen Freundschaftsbündnisses mit dem Zarenthrone an der Newa. Die germanische und die slavische Civilisation haben zwar gesonderte Ziele, aber keine conträren; dagegen richten sich beide gegen die von England kürzlich aufgenommenen Aspirationen, englisches, indisches und orientalisch-tartarisches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/247>, abgerufen am 22.07.2024.