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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Bela mit ihren Gebirgsposten zu beherrschen wünscht, haben wir schon erwähnt,
auch gesagt', daß das kein "asus dslli zu sein braucht. Dagegen wäre es un¬
billig, Rußland veranlassen zu wollen, daß es seinen Handel einzig durch diese
von Engländern besetzten Pässe hindurch nach Indien gelangen ließe. Der
Organisator der tartarischen Stämme incl. der Osmanen muß seinen Einfluß bis
ans persische Meer und an den persischen Golf erstrecken können, ihm gebührt
auch naturgemäß das Protectorat über Persien und die asiatische Türkei. Wenn
es uns erlaubt ist, auch einmal von "wissenschaftlichen Grenzen" zu sprechen,
so können wir diese für Rußland nur in dem Erwerb des gleichen Länder-
complexes erblicken, auf welchen England irrthümlicher Weise seinen Ehrgeiz
gerichtet hat. Wir meinen Afghanistan und Beludschistan, eventuell mit Aus¬
nahme der Gebirgspässe im Osten dieser Länder, ferner Persien und die
asiatische Türkei. In Verbindung mit Turkestan bildet dieser Ländercomplex
die geographische, commerzielle, politische und -- last not Isast -- die civilisatorische
Jnteressenphäre des großen nordischen Reiches, welches berufen ist, die tarta-
rische Welt zu civilisiren und dazu außer andern: die militärische Kraft besitzt.
Wenn wir meinen, daß der ganze propagandistische Geist Rußlands in Zukunft nach
Indien gravitiren und die Schablone der englischen Staatsarbeitsfabrik daselbst
über den Haufen stürzen werde, so denken wir dabei nicht an eine Eroberung
Indiens durch Rußland, vielmehr an die wunderbaren Segnungen, welche den
Völkern aus der elementaren Kraft großer Reiche bei ihrem gegenseitigen Näher¬
rücken gleichsam wie durch ein Naturgesetz erwachsen. In dieser Hinsicht ist
der propagandistische Geist des an die Grenzen Indiens gerückten Rußlands von
hohem völkergeschichtlichen Werthe und auch für England von Bedeutung, insofern
als dieses einen gewaltigen directen Antrieb erhalten wird, seine staatlichen
Pflichten dermaßen gegen Indien zu erfüllen, daß die indische Bevölkerung
durch das brittische Gouvernement zufrieden gestellt wird. Die Zeiten der Aus-
saugung, von welche" die indische Compagnie zeugte, und welche von Macaulay
gebrandmarkt wurden, köunen in keiner Form wiederkehren. Das ist eine un¬
endliche Wohlthat für die Cultur und die Gesittung.

Sehen wir uns nun Persien an, den Mittelpunkt der gemeinsamen Inter¬
essensphäre Englands und Rußlands, so ist nicht zu leugnen, daß alle thatsäch¬
lichen Bedingungen Persien an Rußland ketten. Teheran ist von Cabul, dem
nächsten Orte des brittischen Einflusses, so weit entfernt, wie Petersburg von
Berlin, dagegen grenzt Persien im ganzen Norden und zum Theil auch im Osten
direct an Rußland und ist durch seine Handelsbeziehungen nach dem europäischen
Continente auf die russische Verkehrsstraße durch Armenien oder durch das cas-
pische Meer angewiesen. Nußland könnte Persien von Eriwan, vom caspischen
Meere und von Merv aus bedrängen und Teheran einnehmen, ehe noch Eng-


Bela mit ihren Gebirgsposten zu beherrschen wünscht, haben wir schon erwähnt,
auch gesagt', daß das kein «asus dslli zu sein braucht. Dagegen wäre es un¬
billig, Rußland veranlassen zu wollen, daß es seinen Handel einzig durch diese
von Engländern besetzten Pässe hindurch nach Indien gelangen ließe. Der
Organisator der tartarischen Stämme incl. der Osmanen muß seinen Einfluß bis
ans persische Meer und an den persischen Golf erstrecken können, ihm gebührt
auch naturgemäß das Protectorat über Persien und die asiatische Türkei. Wenn
es uns erlaubt ist, auch einmal von „wissenschaftlichen Grenzen" zu sprechen,
so können wir diese für Rußland nur in dem Erwerb des gleichen Länder-
complexes erblicken, auf welchen England irrthümlicher Weise seinen Ehrgeiz
gerichtet hat. Wir meinen Afghanistan und Beludschistan, eventuell mit Aus¬
nahme der Gebirgspässe im Osten dieser Länder, ferner Persien und die
asiatische Türkei. In Verbindung mit Turkestan bildet dieser Ländercomplex
die geographische, commerzielle, politische und — last not Isast — die civilisatorische
Jnteressenphäre des großen nordischen Reiches, welches berufen ist, die tarta-
rische Welt zu civilisiren und dazu außer andern: die militärische Kraft besitzt.
Wenn wir meinen, daß der ganze propagandistische Geist Rußlands in Zukunft nach
Indien gravitiren und die Schablone der englischen Staatsarbeitsfabrik daselbst
über den Haufen stürzen werde, so denken wir dabei nicht an eine Eroberung
Indiens durch Rußland, vielmehr an die wunderbaren Segnungen, welche den
Völkern aus der elementaren Kraft großer Reiche bei ihrem gegenseitigen Näher¬
rücken gleichsam wie durch ein Naturgesetz erwachsen. In dieser Hinsicht ist
der propagandistische Geist des an die Grenzen Indiens gerückten Rußlands von
hohem völkergeschichtlichen Werthe und auch für England von Bedeutung, insofern
als dieses einen gewaltigen directen Antrieb erhalten wird, seine staatlichen
Pflichten dermaßen gegen Indien zu erfüllen, daß die indische Bevölkerung
durch das brittische Gouvernement zufrieden gestellt wird. Die Zeiten der Aus-
saugung, von welche» die indische Compagnie zeugte, und welche von Macaulay
gebrandmarkt wurden, köunen in keiner Form wiederkehren. Das ist eine un¬
endliche Wohlthat für die Cultur und die Gesittung.

Sehen wir uns nun Persien an, den Mittelpunkt der gemeinsamen Inter¬
essensphäre Englands und Rußlands, so ist nicht zu leugnen, daß alle thatsäch¬
lichen Bedingungen Persien an Rußland ketten. Teheran ist von Cabul, dem
nächsten Orte des brittischen Einflusses, so weit entfernt, wie Petersburg von
Berlin, dagegen grenzt Persien im ganzen Norden und zum Theil auch im Osten
direct an Rußland und ist durch seine Handelsbeziehungen nach dem europäischen
Continente auf die russische Verkehrsstraße durch Armenien oder durch das cas-
pische Meer angewiesen. Nußland könnte Persien von Eriwan, vom caspischen
Meere und von Merv aus bedrängen und Teheran einnehmen, ehe noch Eng-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/246>, abgerufen am 03.07.2024.