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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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ihre nomadischen unruhigen Sitten unbequem werden. Zuerst giebt es Einfälle
und Plünderungen zu unterdrücken. Um diesen ein Ende zu machen, muß man
die Grenzvvlker zu einer mehr oder minder directen Unterwerfung bringen. Hat
man einmal dieses Resultat erzielt, so werden diese Völker ruhigere Gewohn¬
heiten annehmen, aber nun ihrerseits den Angriffen der entfernteren Stämme
ausgesetzt sein. Der Staat wird gezwungen sein, sie gegen die Räubereien zu
vertheidigen und die Urheber derselben zu bestrafen. Daraus entstehen dann
die weiter fortgesetzten und periodischen Expeditionen gegen einen Feind, der
vermöge seiner socialen Organisation nicht zu fassen ist. Beschränkt man sich
darauf die Plünderer zu bestrafen und zieht sich zurück, so ist die Lehre bald
verwischt; der Rückzug wird als Schwäche ausgelegt. Besonders die asiatischen
Völker achten nur die ficht- und fühlbare Macht; die moralische Kraft der Ver¬
nunft und der Interessen der Civilisation wirkt noch nicht auf sie. Die Auf¬
gabe muß also stets neu begonnen werden. Um diesen beständigen Unordnungen
Einhalt zu thun, errichtet man inmitten der feindlichen Bevölkerungen einige
befestigte Punkte und übt auf sie allmählich einen Einfluß aus, der sie zu einer
mehr oder minder gezwungenen Unterwerfung bringt. Indessen beschworen bald
jenseits dieser zweiten Linie andere entferntere Völker dieselben Gefahren und
dieselben Gegenmaßregeln herauf. Der Staat sieht sich also in der Alternative,
entweder diese unaufhörliche Arbeit aufzugeben und seine Grenze den fortwäh¬
renden, jedes Gedeihen, jede Sicherheit und jede Civilisation unmöglich machen¬
den Unordnungen auszusetzen, oder immer mehr in die Tiefe jener wilden
Länder vorzudringen, wo sich bei jedem Schritte die Entfernungen, die Schwierig¬
keiten und die übernommenen Lasten vergrößern. Das war das Schicksal aller
Länder, die unter gleichen Verhältnissen sich befanden. In Amerika wurden
die Vereinigten Staaten, in Algier Frankreich, in Indien England unaufhaltsam
dcchiu gebracht, jenen fortschreitenden Gang zu verfolgen, wobei weit weniger
der Ehrgeiz, als die dringende Nothwendigkeit die Triebfeder ist, und wobei die
größte Schwierigkeit darin liegt, daß man es versteht halt zu machen." Auf
diese Weise hat Rußland Turkestan unterworfen.

In dem jüngsten Kriege Englands mit Afghanistan sind nun diese Grund¬
sätze nicht die leitenden Motive gewesen. Der ausschlaggebende Grund zum
Kriege und zur Eroberung des Landes war die Rücksicht auf und vielleicht die
Furcht vor dem russischen Eroberer. Als die Engländer 1839 in Afghanistan
einrückten und im Winter 1841 jene furchtbare Niederlage erlitten, dachten sie
gewiß noch nicht mit Besorgniß an Rußland. Damals galt die Unterwerfung
der Afghanen der Sicherung der nördlichen Grenze Indiens und der Bestrafung
der Afghanen wegen ihrer Angriffe gegen die into-englischen Alliirten durch
Dose-Mohammed. Diese Vorgänge, der spätere Sieg der Britten und die


ihre nomadischen unruhigen Sitten unbequem werden. Zuerst giebt es Einfälle
und Plünderungen zu unterdrücken. Um diesen ein Ende zu machen, muß man
die Grenzvvlker zu einer mehr oder minder directen Unterwerfung bringen. Hat
man einmal dieses Resultat erzielt, so werden diese Völker ruhigere Gewohn¬
heiten annehmen, aber nun ihrerseits den Angriffen der entfernteren Stämme
ausgesetzt sein. Der Staat wird gezwungen sein, sie gegen die Räubereien zu
vertheidigen und die Urheber derselben zu bestrafen. Daraus entstehen dann
die weiter fortgesetzten und periodischen Expeditionen gegen einen Feind, der
vermöge seiner socialen Organisation nicht zu fassen ist. Beschränkt man sich
darauf die Plünderer zu bestrafen und zieht sich zurück, so ist die Lehre bald
verwischt; der Rückzug wird als Schwäche ausgelegt. Besonders die asiatischen
Völker achten nur die ficht- und fühlbare Macht; die moralische Kraft der Ver¬
nunft und der Interessen der Civilisation wirkt noch nicht auf sie. Die Auf¬
gabe muß also stets neu begonnen werden. Um diesen beständigen Unordnungen
Einhalt zu thun, errichtet man inmitten der feindlichen Bevölkerungen einige
befestigte Punkte und übt auf sie allmählich einen Einfluß aus, der sie zu einer
mehr oder minder gezwungenen Unterwerfung bringt. Indessen beschworen bald
jenseits dieser zweiten Linie andere entferntere Völker dieselben Gefahren und
dieselben Gegenmaßregeln herauf. Der Staat sieht sich also in der Alternative,
entweder diese unaufhörliche Arbeit aufzugeben und seine Grenze den fortwäh¬
renden, jedes Gedeihen, jede Sicherheit und jede Civilisation unmöglich machen¬
den Unordnungen auszusetzen, oder immer mehr in die Tiefe jener wilden
Länder vorzudringen, wo sich bei jedem Schritte die Entfernungen, die Schwierig¬
keiten und die übernommenen Lasten vergrößern. Das war das Schicksal aller
Länder, die unter gleichen Verhältnissen sich befanden. In Amerika wurden
die Vereinigten Staaten, in Algier Frankreich, in Indien England unaufhaltsam
dcchiu gebracht, jenen fortschreitenden Gang zu verfolgen, wobei weit weniger
der Ehrgeiz, als die dringende Nothwendigkeit die Triebfeder ist, und wobei die
größte Schwierigkeit darin liegt, daß man es versteht halt zu machen." Auf
diese Weise hat Rußland Turkestan unterworfen.

In dem jüngsten Kriege Englands mit Afghanistan sind nun diese Grund¬
sätze nicht die leitenden Motive gewesen. Der ausschlaggebende Grund zum
Kriege und zur Eroberung des Landes war die Rücksicht auf und vielleicht die
Furcht vor dem russischen Eroberer. Als die Engländer 1839 in Afghanistan
einrückten und im Winter 1841 jene furchtbare Niederlage erlitten, dachten sie
gewiß noch nicht mit Besorgniß an Rußland. Damals galt die Unterwerfung
der Afghanen der Sicherung der nördlichen Grenze Indiens und der Bestrafung
der Afghanen wegen ihrer Angriffe gegen die into-englischen Alliirten durch
Dose-Mohammed. Diese Vorgänge, der spätere Sieg der Britten und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/234>, abgerufen am 22.07.2024.