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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Disciplin zum guten Theil die redlichen Absichten. Bei weitem die Mehrzahl
aber, darunter sehr namhafte Institute, beschränken sich darauf, den Schülern
eine Anzahl Stunden für Clavierspiel, Violinspiel (bez. Orgel-, Violoncellospiel
u. s. w.) oder für Gesang, ferner für die Theorie (Harmonielehre, Contrapunkt,
Canon und Fuge, freie Komposition) anzusetzen, überlassen es aber den Schü¬
lern durchaus, ob sie dieselben besuchen oder nicht. Der schlimmste Mangel
der Musikschulen ist aber gerade diese fehlende Disciplin; der Zu¬
schnitt ist sozusagen ein akademischer, aber es finden leider nicht nur erwachsene
Jünglinge und Jungfrauen, sondern auch halbe Kinder auf denselben Aufnahme,
für die eine strenge Ueberwachung absolut unerläßlich ist. Die Eltern, welche
oft von weit her ihre Kinder einer solchen Anstalt anvertrauen, haben jedenfalls
keine Ahnung von den Gefahren, denen sie dieselben dort aussetzen. In einer
mittelmäßigen Pension untergebracht, oft mit einer Anzahl musikalischer Mit¬
schüler verschiedensten Alters zusammen, sind sie von dem Augenblicke an, wo
sie in die Anstalt eintreten, zukünftige Künstler und fangen an, sich als solche
zu geberden; daß von einer regelmäßigen Fortsetzung der außermusikalischen
Schulstudien nicht mehr die Rede ist, versteht sich von selbst -- es wird nur
noch musicirt, und wenn die Eltern auch noch anderweite Privatstunden bezahlen,
so ist doch deren positives Resultat meist gleich Null. Unter solchen Verhält¬
nissen ist der Schlußerfolg nicht verwunderlich; was ein Junge von 12 Jahren
gelernt hat, ist nicht eben viel, gerade soviel, daß er es bequem vergessen haben
kann, ehe er 16 Jahre wird. So kommt es denn, daß halbwüchsige Conserva-
tvristen am Ende eine leidliche Fuge, aber keinen orthographischen Brief schreiben
können.

Hast du, lieber Leser! einmal einen Blick hinter die Coulissen eines Conser-
vatoriums gethan? Weißt du, was es heißt den ganzen Tag Musik zu machen
oder vielmehr den ganzen Tag Musik zu hören? Sieh dir diesen gebückten
Greis an, der nun seit mehr als drei Decennien Tag für Tag vier, fünf, sechs
Stunden lang an demselben Tische sitzt und die theoretischen Arbeiten seiner
Schüler corrigirt -- immer Aufgaben derselben Art, immer Fehler derselben
Art -- wunderts dich, daß er seit Jahren aufgehört hat, dabei zu sprechen,
daß er schweigend und ohne eine Miene zu verziehen die Octaven- und Quinten¬
parallelen wegstreicht und es seinen Zöglingen überläßt, zu Hause über seine
Verbesserungen nachzudenken? Sieh diesen noch rüstige,: Mann, der nicht im
Stande ist, es zu verhindern, daß sein Kinn auf die Brust sinkt und die Augen¬
lider ihm zufallen, während eine talentvolle Schülerin gerade eine der schönsten
Stellen des Beethovenschen G-Dur-Concertes vorträgt -- der ärmste hört das
Concert vielleicht zum tausendsten Male und hat heute schon sechs Concerte
und etwa ein Dutzend Sonaten angehört; denn er hat heute morgen vier


Disciplin zum guten Theil die redlichen Absichten. Bei weitem die Mehrzahl
aber, darunter sehr namhafte Institute, beschränken sich darauf, den Schülern
eine Anzahl Stunden für Clavierspiel, Violinspiel (bez. Orgel-, Violoncellospiel
u. s. w.) oder für Gesang, ferner für die Theorie (Harmonielehre, Contrapunkt,
Canon und Fuge, freie Komposition) anzusetzen, überlassen es aber den Schü¬
lern durchaus, ob sie dieselben besuchen oder nicht. Der schlimmste Mangel
der Musikschulen ist aber gerade diese fehlende Disciplin; der Zu¬
schnitt ist sozusagen ein akademischer, aber es finden leider nicht nur erwachsene
Jünglinge und Jungfrauen, sondern auch halbe Kinder auf denselben Aufnahme,
für die eine strenge Ueberwachung absolut unerläßlich ist. Die Eltern, welche
oft von weit her ihre Kinder einer solchen Anstalt anvertrauen, haben jedenfalls
keine Ahnung von den Gefahren, denen sie dieselben dort aussetzen. In einer
mittelmäßigen Pension untergebracht, oft mit einer Anzahl musikalischer Mit¬
schüler verschiedensten Alters zusammen, sind sie von dem Augenblicke an, wo
sie in die Anstalt eintreten, zukünftige Künstler und fangen an, sich als solche
zu geberden; daß von einer regelmäßigen Fortsetzung der außermusikalischen
Schulstudien nicht mehr die Rede ist, versteht sich von selbst — es wird nur
noch musicirt, und wenn die Eltern auch noch anderweite Privatstunden bezahlen,
so ist doch deren positives Resultat meist gleich Null. Unter solchen Verhält¬
nissen ist der Schlußerfolg nicht verwunderlich; was ein Junge von 12 Jahren
gelernt hat, ist nicht eben viel, gerade soviel, daß er es bequem vergessen haben
kann, ehe er 16 Jahre wird. So kommt es denn, daß halbwüchsige Conserva-
tvristen am Ende eine leidliche Fuge, aber keinen orthographischen Brief schreiben
können.

Hast du, lieber Leser! einmal einen Blick hinter die Coulissen eines Conser-
vatoriums gethan? Weißt du, was es heißt den ganzen Tag Musik zu machen
oder vielmehr den ganzen Tag Musik zu hören? Sieh dir diesen gebückten
Greis an, der nun seit mehr als drei Decennien Tag für Tag vier, fünf, sechs
Stunden lang an demselben Tische sitzt und die theoretischen Arbeiten seiner
Schüler corrigirt — immer Aufgaben derselben Art, immer Fehler derselben
Art — wunderts dich, daß er seit Jahren aufgehört hat, dabei zu sprechen,
daß er schweigend und ohne eine Miene zu verziehen die Octaven- und Quinten¬
parallelen wegstreicht und es seinen Zöglingen überläßt, zu Hause über seine
Verbesserungen nachzudenken? Sieh diesen noch rüstige,: Mann, der nicht im
Stande ist, es zu verhindern, daß sein Kinn auf die Brust sinkt und die Augen¬
lider ihm zufallen, während eine talentvolle Schülerin gerade eine der schönsten
Stellen des Beethovenschen G-Dur-Concertes vorträgt — der ärmste hört das
Concert vielleicht zum tausendsten Male und hat heute schon sechs Concerte
und etwa ein Dutzend Sonaten angehört; denn er hat heute morgen vier


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[0216] Disciplin zum guten Theil die redlichen Absichten. Bei weitem die Mehrzahl aber, darunter sehr namhafte Institute, beschränken sich darauf, den Schülern eine Anzahl Stunden für Clavierspiel, Violinspiel (bez. Orgel-, Violoncellospiel u. s. w.) oder für Gesang, ferner für die Theorie (Harmonielehre, Contrapunkt, Canon und Fuge, freie Komposition) anzusetzen, überlassen es aber den Schü¬ lern durchaus, ob sie dieselben besuchen oder nicht. Der schlimmste Mangel der Musikschulen ist aber gerade diese fehlende Disciplin; der Zu¬ schnitt ist sozusagen ein akademischer, aber es finden leider nicht nur erwachsene Jünglinge und Jungfrauen, sondern auch halbe Kinder auf denselben Aufnahme, für die eine strenge Ueberwachung absolut unerläßlich ist. Die Eltern, welche oft von weit her ihre Kinder einer solchen Anstalt anvertrauen, haben jedenfalls keine Ahnung von den Gefahren, denen sie dieselben dort aussetzen. In einer mittelmäßigen Pension untergebracht, oft mit einer Anzahl musikalischer Mit¬ schüler verschiedensten Alters zusammen, sind sie von dem Augenblicke an, wo sie in die Anstalt eintreten, zukünftige Künstler und fangen an, sich als solche zu geberden; daß von einer regelmäßigen Fortsetzung der außermusikalischen Schulstudien nicht mehr die Rede ist, versteht sich von selbst — es wird nur noch musicirt, und wenn die Eltern auch noch anderweite Privatstunden bezahlen, so ist doch deren positives Resultat meist gleich Null. Unter solchen Verhält¬ nissen ist der Schlußerfolg nicht verwunderlich; was ein Junge von 12 Jahren gelernt hat, ist nicht eben viel, gerade soviel, daß er es bequem vergessen haben kann, ehe er 16 Jahre wird. So kommt es denn, daß halbwüchsige Conserva- tvristen am Ende eine leidliche Fuge, aber keinen orthographischen Brief schreiben können. Hast du, lieber Leser! einmal einen Blick hinter die Coulissen eines Conser- vatoriums gethan? Weißt du, was es heißt den ganzen Tag Musik zu machen oder vielmehr den ganzen Tag Musik zu hören? Sieh dir diesen gebückten Greis an, der nun seit mehr als drei Decennien Tag für Tag vier, fünf, sechs Stunden lang an demselben Tische sitzt und die theoretischen Arbeiten seiner Schüler corrigirt — immer Aufgaben derselben Art, immer Fehler derselben Art — wunderts dich, daß er seit Jahren aufgehört hat, dabei zu sprechen, daß er schweigend und ohne eine Miene zu verziehen die Octaven- und Quinten¬ parallelen wegstreicht und es seinen Zöglingen überläßt, zu Hause über seine Verbesserungen nachzudenken? Sieh diesen noch rüstige,: Mann, der nicht im Stande ist, es zu verhindern, daß sein Kinn auf die Brust sinkt und die Augen¬ lider ihm zufallen, während eine talentvolle Schülerin gerade eine der schönsten Stellen des Beethovenschen G-Dur-Concertes vorträgt — der ärmste hört das Concert vielleicht zum tausendsten Male und hat heute schon sechs Concerte und etwa ein Dutzend Sonaten angehört; denn er hat heute morgen vier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/216>, abgerufen am 03.07.2024.