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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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gegenstände der auswärtigen Politik anders als Granville, und Gladstone
unterscheidet sich in seiner ganzen Auffassung der Dinge sowie in seinem Tempera¬
ment nicht unwesentlich von Beiden. Man darf bezweifeln, ob dieselben Politiker,
die beim Angriff auf den Gegner einig waren, es auch hinsichtlich der Grund¬
sätze, nach denen nach dem Siege verfahren werden soll, und der Wege, die
zunächst betreten werden sollen, sein werden.

Ferner wird sich zweifelsohne auch hier das Sprichwort bewahrheiten,
nach welchem keine Suppe so heiß gegessen zu werden Pflegt, als sie gekocht
worden ist. Männer in der Opposition dachten immer anders und werden in
aller Zukunft immer anders denken und handeln als dieselben Männer, wenn
sie zur Regierung gelangt waren, bez. gelangen werden. Es ist mit ihnen wie mit
Kronprinzen, die liberale Anschauungen und Neigungen zeigen, so lange sie eben
Kronprinzen und nicht regierende Fürsten sind, welche mit den Thatsachen zu
rechnen und nach ihnen zu handeln haben, und welche für ihr Thun der Gegen¬
wart und der Geschichte verantwortlich sind. Der praktische Politiker hat hier
immer mir einen ziemlich eng begrenzten Spielraum für die Theorien und Be¬
strebungen der Partei, der er angehört, und in unserm Falle ist die Grenze
durch die Interessen Englands ganz besonders eng gesteckt.

Der Marquis of Hartingtou sieht den Zustand des Orients in außer¬
ordentlich trübem Lichte. Nach seinen Reden kann ein sehr unbedeutend schei¬
nender Zufall die Lösung der den Orient betreffenden Fragen, die in Berlin
gefunden wurde, wieder ungeschehen machen. Er hat geäußert, daß England,
wenn die liberale Partei ans Ruder käme und den Curs des Schiffes zu be¬
stimmen hätte, darauf verzichten würde, die Integrität und Unabhängigkeit der
Türkei zu vertheidigen, wenn diese nicht die nöthigen und von Europa verlangten
Reformen ausführe. Das Erstere ist soweit richtig, als der Berliner Vertrag
nur einen nroclus vivsocli geschaffen hat; aber die Weisheit Europas hat darin
zu bestehen, ihm eine möglichst lange Dauer zu erhalten. Und was die türki¬
schen Reformen betrifft, so liegen sie allerdings im Interesse der Pforte, aber das
letzte und höchste Interesse Englands liegt nicht in ihnen, sondern darin, daß die
Türkei, gleichviel ob reformirt oder nicht, in ihrem territorialen Bestände erhalten
und von Rußland möglichst unabhängig bleibt. Die Reformen werden zu ihrer
Ausführung -vieler Jahre bedürfen, schon weil sie Geld erfordern, und die Türkei
keins mehr hat, dann weil ihnen die türkische Beamtenwelt nach ihrer Gewohn¬
heit und in ihrem Interesse alle erdenklichen Hindernisse in den Weg legen
wird, und das energische staatsmämnsche Genie bis jetzt mangelt, daß solchen
Widerstand allein zu brechen im Stande wäre. Wollte sich England in der
Zwischenzeit nicht um die Türkei bekümmern und Rußland freie Hand lassen,
so würde die Krisis vermuthlich sehr bald beginnen, und England müßte dann,


gegenstände der auswärtigen Politik anders als Granville, und Gladstone
unterscheidet sich in seiner ganzen Auffassung der Dinge sowie in seinem Tempera¬
ment nicht unwesentlich von Beiden. Man darf bezweifeln, ob dieselben Politiker,
die beim Angriff auf den Gegner einig waren, es auch hinsichtlich der Grund¬
sätze, nach denen nach dem Siege verfahren werden soll, und der Wege, die
zunächst betreten werden sollen, sein werden.

Ferner wird sich zweifelsohne auch hier das Sprichwort bewahrheiten,
nach welchem keine Suppe so heiß gegessen zu werden Pflegt, als sie gekocht
worden ist. Männer in der Opposition dachten immer anders und werden in
aller Zukunft immer anders denken und handeln als dieselben Männer, wenn
sie zur Regierung gelangt waren, bez. gelangen werden. Es ist mit ihnen wie mit
Kronprinzen, die liberale Anschauungen und Neigungen zeigen, so lange sie eben
Kronprinzen und nicht regierende Fürsten sind, welche mit den Thatsachen zu
rechnen und nach ihnen zu handeln haben, und welche für ihr Thun der Gegen¬
wart und der Geschichte verantwortlich sind. Der praktische Politiker hat hier
immer mir einen ziemlich eng begrenzten Spielraum für die Theorien und Be¬
strebungen der Partei, der er angehört, und in unserm Falle ist die Grenze
durch die Interessen Englands ganz besonders eng gesteckt.

Der Marquis of Hartingtou sieht den Zustand des Orients in außer¬
ordentlich trübem Lichte. Nach seinen Reden kann ein sehr unbedeutend schei¬
nender Zufall die Lösung der den Orient betreffenden Fragen, die in Berlin
gefunden wurde, wieder ungeschehen machen. Er hat geäußert, daß England,
wenn die liberale Partei ans Ruder käme und den Curs des Schiffes zu be¬
stimmen hätte, darauf verzichten würde, die Integrität und Unabhängigkeit der
Türkei zu vertheidigen, wenn diese nicht die nöthigen und von Europa verlangten
Reformen ausführe. Das Erstere ist soweit richtig, als der Berliner Vertrag
nur einen nroclus vivsocli geschaffen hat; aber die Weisheit Europas hat darin
zu bestehen, ihm eine möglichst lange Dauer zu erhalten. Und was die türki¬
schen Reformen betrifft, so liegen sie allerdings im Interesse der Pforte, aber das
letzte und höchste Interesse Englands liegt nicht in ihnen, sondern darin, daß die
Türkei, gleichviel ob reformirt oder nicht, in ihrem territorialen Bestände erhalten
und von Rußland möglichst unabhängig bleibt. Die Reformen werden zu ihrer
Ausführung -vieler Jahre bedürfen, schon weil sie Geld erfordern, und die Türkei
keins mehr hat, dann weil ihnen die türkische Beamtenwelt nach ihrer Gewohn¬
heit und in ihrem Interesse alle erdenklichen Hindernisse in den Weg legen
wird, und das energische staatsmämnsche Genie bis jetzt mangelt, daß solchen
Widerstand allein zu brechen im Stande wäre. Wollte sich England in der
Zwischenzeit nicht um die Türkei bekümmern und Rußland freie Hand lassen,
so würde die Krisis vermuthlich sehr bald beginnen, und England müßte dann,


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[0135] gegenstände der auswärtigen Politik anders als Granville, und Gladstone unterscheidet sich in seiner ganzen Auffassung der Dinge sowie in seinem Tempera¬ ment nicht unwesentlich von Beiden. Man darf bezweifeln, ob dieselben Politiker, die beim Angriff auf den Gegner einig waren, es auch hinsichtlich der Grund¬ sätze, nach denen nach dem Siege verfahren werden soll, und der Wege, die zunächst betreten werden sollen, sein werden. Ferner wird sich zweifelsohne auch hier das Sprichwort bewahrheiten, nach welchem keine Suppe so heiß gegessen zu werden Pflegt, als sie gekocht worden ist. Männer in der Opposition dachten immer anders und werden in aller Zukunft immer anders denken und handeln als dieselben Männer, wenn sie zur Regierung gelangt waren, bez. gelangen werden. Es ist mit ihnen wie mit Kronprinzen, die liberale Anschauungen und Neigungen zeigen, so lange sie eben Kronprinzen und nicht regierende Fürsten sind, welche mit den Thatsachen zu rechnen und nach ihnen zu handeln haben, und welche für ihr Thun der Gegen¬ wart und der Geschichte verantwortlich sind. Der praktische Politiker hat hier immer mir einen ziemlich eng begrenzten Spielraum für die Theorien und Be¬ strebungen der Partei, der er angehört, und in unserm Falle ist die Grenze durch die Interessen Englands ganz besonders eng gesteckt. Der Marquis of Hartingtou sieht den Zustand des Orients in außer¬ ordentlich trübem Lichte. Nach seinen Reden kann ein sehr unbedeutend schei¬ nender Zufall die Lösung der den Orient betreffenden Fragen, die in Berlin gefunden wurde, wieder ungeschehen machen. Er hat geäußert, daß England, wenn die liberale Partei ans Ruder käme und den Curs des Schiffes zu be¬ stimmen hätte, darauf verzichten würde, die Integrität und Unabhängigkeit der Türkei zu vertheidigen, wenn diese nicht die nöthigen und von Europa verlangten Reformen ausführe. Das Erstere ist soweit richtig, als der Berliner Vertrag nur einen nroclus vivsocli geschaffen hat; aber die Weisheit Europas hat darin zu bestehen, ihm eine möglichst lange Dauer zu erhalten. Und was die türki¬ schen Reformen betrifft, so liegen sie allerdings im Interesse der Pforte, aber das letzte und höchste Interesse Englands liegt nicht in ihnen, sondern darin, daß die Türkei, gleichviel ob reformirt oder nicht, in ihrem territorialen Bestände erhalten und von Rußland möglichst unabhängig bleibt. Die Reformen werden zu ihrer Ausführung -vieler Jahre bedürfen, schon weil sie Geld erfordern, und die Türkei keins mehr hat, dann weil ihnen die türkische Beamtenwelt nach ihrer Gewohn¬ heit und in ihrem Interesse alle erdenklichen Hindernisse in den Weg legen wird, und das energische staatsmämnsche Genie bis jetzt mangelt, daß solchen Widerstand allein zu brechen im Stande wäre. Wollte sich England in der Zwischenzeit nicht um die Türkei bekümmern und Rußland freie Hand lassen, so würde die Krisis vermuthlich sehr bald beginnen, und England müßte dann,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/135>, abgerufen am 03.07.2024.