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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Leto gegenüber in einseitiger Kraft sich entwickeln konnte; aber so gern wir ihr
dies zugestehen, dieses individuelle Recht hätte nnr bestehen können unter Auf¬
hebung der allgemeingiltigen göttlichen Weltordnung, wie sie durch Apollon und
Artemis repräsentirt wird, und vor ihr muß das Individuum mit seinem sub-
jectiven Recht in den Staub sinken.

Diese Fülle der tragischen Gewalt, der dichterischen Größe kann sich nicht
lange erhalten, und es will scheinen, als ob sie mit solcher Macht in antiken
Gruppen nicht zum zweiten Male aufgetreten würe. Zum Theil mag dies mit
dein Wesen der bildenden Kunst überhaupt zusnmmeuhängen. Da die tragische
Empfindung uur in Folge eiuer zeitlichen Entwicklung entstehen kann, welche
uns die verschiedenen Elemente in ihrer Bedeutuug und Berechtigung kennen
lehrt, die bildende Kunst aber nur mit einem einzigen Momente zu thun hat,
der eine zeitliche Entwicklung nur andeuten, nie selbst aufweisen, noch weniger
aber die Berechtigung der einzelnen Elemente darlegen kaun, so wäre streng
genommen die bildende Kunst von der Tragik ausgeschlossen, wenn sie nicht an
allgemein menschliche Verhältnisse und an bestimmte, als wohlbekannt voraus¬
zusetzende Ereignisse anzuknüpfen vermöchte. Immerhin wird durch solche Vor¬
aussetzungen das Feld der Wirksamkeit eng beschränkt, und zwar für die Plastik
noch mehr als für die Malerei, da in jener durch das schwierigere Material,
durch das entschiedenere Ablösen von Oertlichkeit Und Umgebung die Andeutung
der Handlung sehr erschwert ist. Will sie aber dennoch wirken, so werden
gerade in ihr die Mittel um so kräftigere, um so mehr durch ihre Gegenwart
empfindbare sein müssen, so daß gerade in der Plastik der Uebergang vou der
Wirkung durch seelische Leiden zu der Wirkung durch körperliche rascher und
entschiedener auftreten mag als in der Malerei, zumal wem: eine erhöhte
Technik, sowie eine genauere Kenntniß des menschlichen Körpers zu immer küh¬
nerem Darstellungen verlockt, die in demselben Maße, in welchem sie sich in den
Vordergrund drängen, das seelische Leben bei Seite schieben. So tritt an die
Stelle des tiefen Seelenleidens der Niobe das körperliche des Laokoon, an Stelle
der göttlichen Strafe in diesen beiden Werken die menschliche in der Gruppe
der Dirke, und in den Galliergruppen soll uns schon die nackte Thatsächlichkeit
des Todes in der Schlacht tragisch ergreifen. So ist es, soviel bis jetzt ver¬
lautet, vor Allem die Kühnheit in der Conception, die staunenswerthe Technik,
welche den neuen pergamenischen Fund in erster Linie charakterisirt, nicht aber
tragische Gewalt und Tiefe. So ordnet er sich auch unter diesem Gesichtspunkt
naturgemäß in den Gang der kunstgeschichtlichen Entwicklung, deren Erkenntniß
er für eine bisher im Einzelnen wenig bekannten Epoche in bedeutungsvoller
Weise erweitert, so daß er auch nach dieser Seite hin aufs freudigste zu be¬
grüßen ist.




Leto gegenüber in einseitiger Kraft sich entwickeln konnte; aber so gern wir ihr
dies zugestehen, dieses individuelle Recht hätte nnr bestehen können unter Auf¬
hebung der allgemeingiltigen göttlichen Weltordnung, wie sie durch Apollon und
Artemis repräsentirt wird, und vor ihr muß das Individuum mit seinem sub-
jectiven Recht in den Staub sinken.

Diese Fülle der tragischen Gewalt, der dichterischen Größe kann sich nicht
lange erhalten, und es will scheinen, als ob sie mit solcher Macht in antiken
Gruppen nicht zum zweiten Male aufgetreten würe. Zum Theil mag dies mit
dein Wesen der bildenden Kunst überhaupt zusnmmeuhängen. Da die tragische
Empfindung uur in Folge eiuer zeitlichen Entwicklung entstehen kann, welche
uns die verschiedenen Elemente in ihrer Bedeutuug und Berechtigung kennen
lehrt, die bildende Kunst aber nur mit einem einzigen Momente zu thun hat,
der eine zeitliche Entwicklung nur andeuten, nie selbst aufweisen, noch weniger
aber die Berechtigung der einzelnen Elemente darlegen kaun, so wäre streng
genommen die bildende Kunst von der Tragik ausgeschlossen, wenn sie nicht an
allgemein menschliche Verhältnisse und an bestimmte, als wohlbekannt voraus¬
zusetzende Ereignisse anzuknüpfen vermöchte. Immerhin wird durch solche Vor¬
aussetzungen das Feld der Wirksamkeit eng beschränkt, und zwar für die Plastik
noch mehr als für die Malerei, da in jener durch das schwierigere Material,
durch das entschiedenere Ablösen von Oertlichkeit Und Umgebung die Andeutung
der Handlung sehr erschwert ist. Will sie aber dennoch wirken, so werden
gerade in ihr die Mittel um so kräftigere, um so mehr durch ihre Gegenwart
empfindbare sein müssen, so daß gerade in der Plastik der Uebergang vou der
Wirkung durch seelische Leiden zu der Wirkung durch körperliche rascher und
entschiedener auftreten mag als in der Malerei, zumal wem: eine erhöhte
Technik, sowie eine genauere Kenntniß des menschlichen Körpers zu immer küh¬
nerem Darstellungen verlockt, die in demselben Maße, in welchem sie sich in den
Vordergrund drängen, das seelische Leben bei Seite schieben. So tritt an die
Stelle des tiefen Seelenleidens der Niobe das körperliche des Laokoon, an Stelle
der göttlichen Strafe in diesen beiden Werken die menschliche in der Gruppe
der Dirke, und in den Galliergruppen soll uns schon die nackte Thatsächlichkeit
des Todes in der Schlacht tragisch ergreifen. So ist es, soviel bis jetzt ver¬
lautet, vor Allem die Kühnheit in der Conception, die staunenswerthe Technik,
welche den neuen pergamenischen Fund in erster Linie charakterisirt, nicht aber
tragische Gewalt und Tiefe. So ordnet er sich auch unter diesem Gesichtspunkt
naturgemäß in den Gang der kunstgeschichtlichen Entwicklung, deren Erkenntniß
er für eine bisher im Einzelnen wenig bekannten Epoche in bedeutungsvoller
Weise erweitert, so daß er auch nach dieser Seite hin aufs freudigste zu be¬
grüßen ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/120>, abgerufen am 22.07.2024.