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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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in jene größere Fvrmsprache zurückübersetzen müssen, damit die Erscheinung die
freie Trägerin des großen Geistes wird, der jetzt in den florentinischen Resten
gefesselt liegt und nicht zum vollen Ausdruck kommt. Und wenn er uns dennoch
mächtig ergreift, so legt dies Zeugniß für seine ursprüngliche Kraft und Größe ab.

Das Schicksal der Niobe ist ein wahrhaft tragisches. Sie, die Titanin, die
Halbgöttin, durfte sich wohl für berechtigt halten, einer ursprünglich Sterblichen
gleich zu gelten, welche ihren erhöhten Ruhm nur dem Kiuderpaar verdankte, dem
Niobe eine so viel reichere Kinderschaar gegenüberstellen konnte. Aber freilich
hatte Leto ihre Kinder dem Zeus geboren, und die ihr geweihten göttlichen
Ehren galten schließlich dem Vater der Götter und Menschen. Und wenn sich
nnn Niobe diesen göttlichen Ehren wiedersetzte, wenn sie die Mutter des gött¬
lichen Zwillingspaares durch scharfe Worte verletzte und stolz sich reicher pries,
so überschritt sie das Maß ihrer Berechtigung und verstieß damit gegen das
Grundgesetz der antiken Lebensweisheit, dessen Ueberschreiten stets die Rache der
Gottheit herausfordert; sie handelte unbesonnen und mußte diese Unbesonnenheit
schwer büße", uicht durch eine entsprechende Strafe, wie sie der Richter verhängt
hätte, sondern durch die das Maß ihrerseits überschreitende Rache, welche gerade
dadurch der Niobe unsere Sympathie sichert und sie erst ganz zur tragischen
Gestalt werden läßt. Sie wird nicht an der eignen Person gestraft, sondern
sie muß die Blüthe der Kinder, ihren Stolz und ihre Lust, dahinwelken sehen
und wird so durch den unerwarteten und unaufhaltsamen Tod des Theuerster,
was sie hat, schwerer getroffen, als es durch eine ihre Person selbst erreichende
Strafe hätte geschehen können. Nicht körperlich ist ihr Schmerz; das Mutter-
gefühl, die heiligste Empfindung der Seele, der die meiste Berechtigung auf
Unverletzlichkeit innewohnt, wird schonungslos zermartert. Und dennoch beugt
fich die stolze Seele nicht, der Titanenstolz weicht nicht aus ihrem Herzen, und
wenn der heilige Mutterschmerz ihre Thränen in alle Ewigkeit fließen läßt, so
trotzt ihr ungebeugter Stolz ebenso in alle Ewigkeit im Steine fort. So legt
denn auch der Künstler das Hauptgewicht auf die Mutter. Flehend und doch
ungebeugt sucht ihr Blick die unsichtbaren Gottheiten, vor deren Geschossen sie
wenigstens die jüngste Tochter bewahren möchte, während rings um sie die un-
schuldigen Opfer fallen oder, um deu Schmerz der Ohnmächtigen zu mehren,
hilfesuchend auf sie zueilen. Durch diese von allen Seiten herbeiströmende Be¬
wegung wird der Blick immer wieder auf die Mutter gelenkt, welche das körper¬
liche Leiden der Kinder hundertfach in sich nachlebt. Und um den Schmerz
ganz auf das Gebiet der Seele zu lenken, vermeidet es der Künstler, uns körper¬
liche Wunden zu zeige"; die unsichtbaren Pfeile treffen unsichtbar, und nur ihre
Wirkuug offenbart sich schrecklich. Die hohe, ungebrochene Gestalt in der Mitte
läßt uns aber nachempfinden, wie in ihr die individuelle Berechtigung einer


in jene größere Fvrmsprache zurückübersetzen müssen, damit die Erscheinung die
freie Trägerin des großen Geistes wird, der jetzt in den florentinischen Resten
gefesselt liegt und nicht zum vollen Ausdruck kommt. Und wenn er uns dennoch
mächtig ergreift, so legt dies Zeugniß für seine ursprüngliche Kraft und Größe ab.

Das Schicksal der Niobe ist ein wahrhaft tragisches. Sie, die Titanin, die
Halbgöttin, durfte sich wohl für berechtigt halten, einer ursprünglich Sterblichen
gleich zu gelten, welche ihren erhöhten Ruhm nur dem Kiuderpaar verdankte, dem
Niobe eine so viel reichere Kinderschaar gegenüberstellen konnte. Aber freilich
hatte Leto ihre Kinder dem Zeus geboren, und die ihr geweihten göttlichen
Ehren galten schließlich dem Vater der Götter und Menschen. Und wenn sich
nnn Niobe diesen göttlichen Ehren wiedersetzte, wenn sie die Mutter des gött¬
lichen Zwillingspaares durch scharfe Worte verletzte und stolz sich reicher pries,
so überschritt sie das Maß ihrer Berechtigung und verstieß damit gegen das
Grundgesetz der antiken Lebensweisheit, dessen Ueberschreiten stets die Rache der
Gottheit herausfordert; sie handelte unbesonnen und mußte diese Unbesonnenheit
schwer büße», uicht durch eine entsprechende Strafe, wie sie der Richter verhängt
hätte, sondern durch die das Maß ihrerseits überschreitende Rache, welche gerade
dadurch der Niobe unsere Sympathie sichert und sie erst ganz zur tragischen
Gestalt werden läßt. Sie wird nicht an der eignen Person gestraft, sondern
sie muß die Blüthe der Kinder, ihren Stolz und ihre Lust, dahinwelken sehen
und wird so durch den unerwarteten und unaufhaltsamen Tod des Theuerster,
was sie hat, schwerer getroffen, als es durch eine ihre Person selbst erreichende
Strafe hätte geschehen können. Nicht körperlich ist ihr Schmerz; das Mutter-
gefühl, die heiligste Empfindung der Seele, der die meiste Berechtigung auf
Unverletzlichkeit innewohnt, wird schonungslos zermartert. Und dennoch beugt
fich die stolze Seele nicht, der Titanenstolz weicht nicht aus ihrem Herzen, und
wenn der heilige Mutterschmerz ihre Thränen in alle Ewigkeit fließen läßt, so
trotzt ihr ungebeugter Stolz ebenso in alle Ewigkeit im Steine fort. So legt
denn auch der Künstler das Hauptgewicht auf die Mutter. Flehend und doch
ungebeugt sucht ihr Blick die unsichtbaren Gottheiten, vor deren Geschossen sie
wenigstens die jüngste Tochter bewahren möchte, während rings um sie die un-
schuldigen Opfer fallen oder, um deu Schmerz der Ohnmächtigen zu mehren,
hilfesuchend auf sie zueilen. Durch diese von allen Seiten herbeiströmende Be¬
wegung wird der Blick immer wieder auf die Mutter gelenkt, welche das körper¬
liche Leiden der Kinder hundertfach in sich nachlebt. Und um den Schmerz
ganz auf das Gebiet der Seele zu lenken, vermeidet es der Künstler, uns körper¬
liche Wunden zu zeige»; die unsichtbaren Pfeile treffen unsichtbar, und nur ihre
Wirkuug offenbart sich schrecklich. Die hohe, ungebrochene Gestalt in der Mitte
läßt uns aber nachempfinden, wie in ihr die individuelle Berechtigung einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/119>, abgerufen am 22.07.2024.