Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

lag in dem Ausdruck der Antiope; allein ihr Kopf ist ergänzt. Er wird auch,
der sonstigen ruhigen Haltung des Körpers entsprechend, kumm etwas Anderes
als Befriedigung über die Rache ausgesprochen haben.

Auch die Lavlovngruppe stellt eine Strafvollstreckung dar; ja sie geht noch
weiter als die erste. Während diese, wenn auch freilich im letzte" Augenblick
vor der Vollstreckung, doch nur die Vorbereitung giebt, zeigt diese die Ausfüh¬
rung des Urtheils selbst. Machen hierin die Künstler einen weiteren Schritt
in dem Realismus der Darstellung, so tritt andrerseits durch die Wahl des
Gegenstandes der wichtige, das Gräßliche mildernde Umstand ein, daß die
Urtheilsvvllstrecker Sendboten der Gottheit sind und somit uicht uur ein Act
menschlicher Rachsucht vorliegt. Immerhin aber wird uns das Gräßliche nicht
erspart; unser Mitleid wird aufs entschiedenste in Anspruch genommen, aber nur
durch körperliches Leiden, welches sich vor unseren Augen vollzieht. Wir sehen
deu jüngeren Sohn sterbend zusammenknicken, den Vater im Verzweiflungs-
schmerze sich winden und doch der Unentrinnbarkeit des Schicksals keinen Wider¬
stand leisten, den älteren Sohn nur erst von den Windungen des Schlangen¬
leibes gefangen, aber dennoch dem Tode verfallen; find doch die Schlangen
Werkzeuge der Gottheit, die kein Opfer entkommen lassen dürfen noch werden.
Gerade dieser beim Anblick der äußeren Lage zunächst auftauchende Gedanke an
die Möglichkeit einer Rettung des einen Sohnes, der alsbald durch die Ueber-
legung zurückgedrängt wird, daß der göttlichen Strafe gegenüber ein Entrinnen
nicht möglich ist, giebt der Gruppe einen von den Künstlern wohlbedachten
neuen Reiz, indem hierdurch die Möglichkeit der Situationen erschöpft, die Phan¬
tasie des Beschauers aber zugleich aufs neue zur Weiterdichtuug angeregt und
in Spannung gehalten wird, während bei den beiden anderen Personen die
Lage eine derartig entschiedene ist, daß der weiterdichtenden Phantasie der Weg
aufs bestimmteste vorgezeichnet wird. Ließe man die Möglichkeit einer wirk¬
lichen Rettung des älteren Knaben statt des bloßen Auftauchens des Gedankens
an eine solche Möglichkeit zu, so ginge der Gruppe gerade das ergreifendste
Moment, die Vernichtung der ganzen Familie, verloren. Es ist vielmehr als
ein Meisterzug in der Komposition zu bezeichnen, daß die Künstler es verstanden,
neben der unbedingten Vernichtung des Einen, der eben vor sich gehenden Ver-
nichtung des Zweite", in der dritten Gestalt eine neue Form zu finden, in
welcher die Vernichtung ebenso sicher ist, und doch durch den Schein einer Ret¬
tung nicht etwa eine Milderung, sondern eine Erhöhung der Furchtbarkeit der
Situation bewirkt, welche zu dem überwältigenden Gesammteindruck wesentlich
beiträgt. Ein wirklich entkommender Sohn ließe die göttliche Macht als wir¬
kungslos erscheinen und wäre nicht nur eine überflüssige Zuthat, er würde
geradezu die einheitliche Wirkung aufheben und zerstören. Bei einem Dichter


lag in dem Ausdruck der Antiope; allein ihr Kopf ist ergänzt. Er wird auch,
der sonstigen ruhigen Haltung des Körpers entsprechend, kumm etwas Anderes
als Befriedigung über die Rache ausgesprochen haben.

Auch die Lavlovngruppe stellt eine Strafvollstreckung dar; ja sie geht noch
weiter als die erste. Während diese, wenn auch freilich im letzte» Augenblick
vor der Vollstreckung, doch nur die Vorbereitung giebt, zeigt diese die Ausfüh¬
rung des Urtheils selbst. Machen hierin die Künstler einen weiteren Schritt
in dem Realismus der Darstellung, so tritt andrerseits durch die Wahl des
Gegenstandes der wichtige, das Gräßliche mildernde Umstand ein, daß die
Urtheilsvvllstrecker Sendboten der Gottheit sind und somit uicht uur ein Act
menschlicher Rachsucht vorliegt. Immerhin aber wird uns das Gräßliche nicht
erspart; unser Mitleid wird aufs entschiedenste in Anspruch genommen, aber nur
durch körperliches Leiden, welches sich vor unseren Augen vollzieht. Wir sehen
deu jüngeren Sohn sterbend zusammenknicken, den Vater im Verzweiflungs-
schmerze sich winden und doch der Unentrinnbarkeit des Schicksals keinen Wider¬
stand leisten, den älteren Sohn nur erst von den Windungen des Schlangen¬
leibes gefangen, aber dennoch dem Tode verfallen; find doch die Schlangen
Werkzeuge der Gottheit, die kein Opfer entkommen lassen dürfen noch werden.
Gerade dieser beim Anblick der äußeren Lage zunächst auftauchende Gedanke an
die Möglichkeit einer Rettung des einen Sohnes, der alsbald durch die Ueber-
legung zurückgedrängt wird, daß der göttlichen Strafe gegenüber ein Entrinnen
nicht möglich ist, giebt der Gruppe einen von den Künstlern wohlbedachten
neuen Reiz, indem hierdurch die Möglichkeit der Situationen erschöpft, die Phan¬
tasie des Beschauers aber zugleich aufs neue zur Weiterdichtuug angeregt und
in Spannung gehalten wird, während bei den beiden anderen Personen die
Lage eine derartig entschiedene ist, daß der weiterdichtenden Phantasie der Weg
aufs bestimmteste vorgezeichnet wird. Ließe man die Möglichkeit einer wirk¬
lichen Rettung des älteren Knaben statt des bloßen Auftauchens des Gedankens
an eine solche Möglichkeit zu, so ginge der Gruppe gerade das ergreifendste
Moment, die Vernichtung der ganzen Familie, verloren. Es ist vielmehr als
ein Meisterzug in der Komposition zu bezeichnen, daß die Künstler es verstanden,
neben der unbedingten Vernichtung des Einen, der eben vor sich gehenden Ver-
nichtung des Zweite», in der dritten Gestalt eine neue Form zu finden, in
welcher die Vernichtung ebenso sicher ist, und doch durch den Schein einer Ret¬
tung nicht etwa eine Milderung, sondern eine Erhöhung der Furchtbarkeit der
Situation bewirkt, welche zu dem überwältigenden Gesammteindruck wesentlich
beiträgt. Ein wirklich entkommender Sohn ließe die göttliche Macht als wir¬
kungslos erscheinen und wäre nicht nur eine überflüssige Zuthat, er würde
geradezu die einheitliche Wirkung aufheben und zerstören. Bei einem Dichter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146620"/>
          <p xml:id="ID_331" prev="#ID_330"> lag in dem Ausdruck der Antiope; allein ihr Kopf ist ergänzt. Er wird auch,<lb/>
der sonstigen ruhigen Haltung des Körpers entsprechend, kumm etwas Anderes<lb/>
als Befriedigung über die Rache ausgesprochen haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_332" next="#ID_333"> Auch die Lavlovngruppe stellt eine Strafvollstreckung dar; ja sie geht noch<lb/>
weiter als die erste. Während diese, wenn auch freilich im letzte» Augenblick<lb/>
vor der Vollstreckung, doch nur die Vorbereitung giebt, zeigt diese die Ausfüh¬<lb/>
rung des Urtheils selbst. Machen hierin die Künstler einen weiteren Schritt<lb/>
in dem Realismus der Darstellung, so tritt andrerseits durch die Wahl des<lb/>
Gegenstandes der wichtige, das Gräßliche mildernde Umstand ein, daß die<lb/>
Urtheilsvvllstrecker Sendboten der Gottheit sind und somit uicht uur ein Act<lb/>
menschlicher Rachsucht vorliegt. Immerhin aber wird uns das Gräßliche nicht<lb/>
erspart; unser Mitleid wird aufs entschiedenste in Anspruch genommen, aber nur<lb/>
durch körperliches Leiden, welches sich vor unseren Augen vollzieht. Wir sehen<lb/>
deu jüngeren Sohn sterbend zusammenknicken, den Vater im Verzweiflungs-<lb/>
schmerze sich winden und doch der Unentrinnbarkeit des Schicksals keinen Wider¬<lb/>
stand leisten, den älteren Sohn nur erst von den Windungen des Schlangen¬<lb/>
leibes gefangen, aber dennoch dem Tode verfallen; find doch die Schlangen<lb/>
Werkzeuge der Gottheit, die kein Opfer entkommen lassen dürfen noch werden.<lb/>
Gerade dieser beim Anblick der äußeren Lage zunächst auftauchende Gedanke an<lb/>
die Möglichkeit einer Rettung des einen Sohnes, der alsbald durch die Ueber-<lb/>
legung zurückgedrängt wird, daß der göttlichen Strafe gegenüber ein Entrinnen<lb/>
nicht möglich ist, giebt der Gruppe einen von den Künstlern wohlbedachten<lb/>
neuen Reiz, indem hierdurch die Möglichkeit der Situationen erschöpft, die Phan¬<lb/>
tasie des Beschauers aber zugleich aufs neue zur Weiterdichtuug angeregt und<lb/>
in Spannung gehalten wird, während bei den beiden anderen Personen die<lb/>
Lage eine derartig entschiedene ist, daß der weiterdichtenden Phantasie der Weg<lb/>
aufs bestimmteste vorgezeichnet wird. Ließe man die Möglichkeit einer wirk¬<lb/>
lichen Rettung des älteren Knaben statt des bloßen Auftauchens des Gedankens<lb/>
an eine solche Möglichkeit zu, so ginge der Gruppe gerade das ergreifendste<lb/>
Moment, die Vernichtung der ganzen Familie, verloren. Es ist vielmehr als<lb/>
ein Meisterzug in der Komposition zu bezeichnen, daß die Künstler es verstanden,<lb/>
neben der unbedingten Vernichtung des Einen, der eben vor sich gehenden Ver-<lb/>
nichtung des Zweite», in der dritten Gestalt eine neue Form zu finden, in<lb/>
welcher die Vernichtung ebenso sicher ist, und doch durch den Schein einer Ret¬<lb/>
tung nicht etwa eine Milderung, sondern eine Erhöhung der Furchtbarkeit der<lb/>
Situation bewirkt, welche zu dem überwältigenden Gesammteindruck wesentlich<lb/>
beiträgt. Ein wirklich entkommender Sohn ließe die göttliche Macht als wir¬<lb/>
kungslos erscheinen und wäre nicht nur eine überflüssige Zuthat, er würde<lb/>
geradezu die einheitliche Wirkung aufheben und zerstören. Bei einem Dichter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115] lag in dem Ausdruck der Antiope; allein ihr Kopf ist ergänzt. Er wird auch, der sonstigen ruhigen Haltung des Körpers entsprechend, kumm etwas Anderes als Befriedigung über die Rache ausgesprochen haben. Auch die Lavlovngruppe stellt eine Strafvollstreckung dar; ja sie geht noch weiter als die erste. Während diese, wenn auch freilich im letzte» Augenblick vor der Vollstreckung, doch nur die Vorbereitung giebt, zeigt diese die Ausfüh¬ rung des Urtheils selbst. Machen hierin die Künstler einen weiteren Schritt in dem Realismus der Darstellung, so tritt andrerseits durch die Wahl des Gegenstandes der wichtige, das Gräßliche mildernde Umstand ein, daß die Urtheilsvvllstrecker Sendboten der Gottheit sind und somit uicht uur ein Act menschlicher Rachsucht vorliegt. Immerhin aber wird uns das Gräßliche nicht erspart; unser Mitleid wird aufs entschiedenste in Anspruch genommen, aber nur durch körperliches Leiden, welches sich vor unseren Augen vollzieht. Wir sehen deu jüngeren Sohn sterbend zusammenknicken, den Vater im Verzweiflungs- schmerze sich winden und doch der Unentrinnbarkeit des Schicksals keinen Wider¬ stand leisten, den älteren Sohn nur erst von den Windungen des Schlangen¬ leibes gefangen, aber dennoch dem Tode verfallen; find doch die Schlangen Werkzeuge der Gottheit, die kein Opfer entkommen lassen dürfen noch werden. Gerade dieser beim Anblick der äußeren Lage zunächst auftauchende Gedanke an die Möglichkeit einer Rettung des einen Sohnes, der alsbald durch die Ueber- legung zurückgedrängt wird, daß der göttlichen Strafe gegenüber ein Entrinnen nicht möglich ist, giebt der Gruppe einen von den Künstlern wohlbedachten neuen Reiz, indem hierdurch die Möglichkeit der Situationen erschöpft, die Phan¬ tasie des Beschauers aber zugleich aufs neue zur Weiterdichtuug angeregt und in Spannung gehalten wird, während bei den beiden anderen Personen die Lage eine derartig entschiedene ist, daß der weiterdichtenden Phantasie der Weg aufs bestimmteste vorgezeichnet wird. Ließe man die Möglichkeit einer wirk¬ lichen Rettung des älteren Knaben statt des bloßen Auftauchens des Gedankens an eine solche Möglichkeit zu, so ginge der Gruppe gerade das ergreifendste Moment, die Vernichtung der ganzen Familie, verloren. Es ist vielmehr als ein Meisterzug in der Komposition zu bezeichnen, daß die Künstler es verstanden, neben der unbedingten Vernichtung des Einen, der eben vor sich gehenden Ver- nichtung des Zweite», in der dritten Gestalt eine neue Form zu finden, in welcher die Vernichtung ebenso sicher ist, und doch durch den Schein einer Ret¬ tung nicht etwa eine Milderung, sondern eine Erhöhung der Furchtbarkeit der Situation bewirkt, welche zu dem überwältigenden Gesammteindruck wesentlich beiträgt. Ein wirklich entkommender Sohn ließe die göttliche Macht als wir¬ kungslos erscheinen und wäre nicht nur eine überflüssige Zuthat, er würde geradezu die einheitliche Wirkung aufheben und zerstören. Bei einem Dichter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/115
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/115>, abgerufen am 03.07.2024.