Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.Handlung vor uns entwickeln und unser Mitgefühl wenigstens nach einer Seite Handlung vor uns entwickeln und unser Mitgefühl wenigstens nach einer Seite <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146619"/> <p xml:id="ID_330" prev="#ID_329" next="#ID_331"> Handlung vor uns entwickeln und unser Mitgefühl wenigstens nach einer Seite<lb/> hin für Dirke wecken konnte, steht dem bildenden Künstler diese Möglichkeit<lb/> nicht zur Seite. Beim Dichter kam überdies nach der Sitte des antiken Dramas<lb/> die Bestrafung nur als Erzählung zur Geltung, hier aber tritt sie in der ganzen<lb/> Wucht der unentrinnbaren Realität unserer Einbildungskraft gegenüber, welche<lb/> immer und immer wieder an diesen Moment gefesselt und immer aufs Neue<lb/> gezwungen wird, die nächsten Augenblicke weiterzudichten. So bleibt in der<lb/> That nur das Gräßliche übrig, nach der einen Seite hin dadurch gemildert, daß<lb/> es nur im letzten Augenblicke der Vorbereitung, aber freilich mit uuausweichbarer<lb/> Sicherheit dargestellt ist, nach der andern Seite hin aber gerade dadurch auch<lb/> verstärkt, weil der die Lage weiterdichteuden Phantasie in der Ausmalung der<lb/> Folgen keine Grenze gesteckt wird, so daß sie schließlich bei einem wüsten Knäuel<lb/> von Schmutz und Blut anlangt. Und als ob die Künstler es empfunden hätten,<lb/> daß sie dies Gräßliche wieder wenn auch nicht ausgleichen, so doch einigermaßen<lb/> wieder gut machen müßten, verwenden sie auf die Darstellung des Momentes<lb/> die ganze Kraft ihres großen Talentes, wie wenn sie uns durch das dem Moment<lb/> zukommende Interesse, durch die überwältigende Kühnheit des Aufbaus, durch<lb/> das sorgfältige Abwäge» der Gestalten, durch die meisterhafte Gruppirung, durch<lb/> die stmmenswerthe Technik, durch die verschwenderische Fülle körperlicher Schön¬<lb/> heit an den dargestellten Augenblick fesseln und unsere Phantasie verhindern<lb/> wollten, die Gräßlichkeit der nächsten Augenblicke sich fortdichtend auszumalen.<lb/> Diese freilich vergeblich aufgewendete künstlerische Kraft läßt sich selbst noch nach<lb/> den starken Ergänzungen und Überarbeitungen erkennen, welche jedoch im<lb/> Großen und Ganzen die ursprüngliche Gesammtwirkung zur Geltung kommen<lb/> lassen. Nur darin dürfte die Ergänzung Unrecht haben, daß Zethos die Dirke<lb/> nicht am Haare faßt, wie es uns ein Cameo in Neapel zeigt: das Gewaltsame,<lb/> Unentrinnbare der Situation gewinnt durch dieses Motiv außerordentlich. Das<lb/> malerische Element der Gruppirung wird noch dnrch die naturalistische Darstel¬<lb/> lung des Kithäron mit seinem Gethier erhöht, zumal der felsige, ansteigende<lb/> Bergboden Gelegenheit zu verschiedener Höhe des Planes der Handlung und<lb/> zu kühnster Stellung giebt, wie sie Amphion zeigt. Aber alle diese entschiedenen<lb/> Vorzüge können über den Grundmängel nicht hinwegtäuschen: die beabsichtigte<lb/> Tragik wird durch das Mittel eines im höchsten Grade gräßlichen körperlichen<lb/> Leidens hervorgebracht, welches zwar noch nicht unmittelbar vor unseren Augen<lb/> stattfindet, aber unfehlbar eintritt. Von einem seelischen Leiden ist nichts zu<lb/> sehen; jeder ist ganz und ausschließlich bei der Sache, für einen seelischen Reflex<lb/> bleibt weder Zeit noch Raum. Selbst wo eine Möglichkeit hierzu gegeben ge¬<lb/> wesen wäre, wie in dem zuschauenden Hirten oder Berggott, läßt sich nichts<lb/> von Aufregung oder besonderer Theilnahme erkennen. Eine zweite Möglichkeit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0114]
Handlung vor uns entwickeln und unser Mitgefühl wenigstens nach einer Seite
hin für Dirke wecken konnte, steht dem bildenden Künstler diese Möglichkeit
nicht zur Seite. Beim Dichter kam überdies nach der Sitte des antiken Dramas
die Bestrafung nur als Erzählung zur Geltung, hier aber tritt sie in der ganzen
Wucht der unentrinnbaren Realität unserer Einbildungskraft gegenüber, welche
immer und immer wieder an diesen Moment gefesselt und immer aufs Neue
gezwungen wird, die nächsten Augenblicke weiterzudichten. So bleibt in der
That nur das Gräßliche übrig, nach der einen Seite hin dadurch gemildert, daß
es nur im letzten Augenblicke der Vorbereitung, aber freilich mit uuausweichbarer
Sicherheit dargestellt ist, nach der andern Seite hin aber gerade dadurch auch
verstärkt, weil der die Lage weiterdichteuden Phantasie in der Ausmalung der
Folgen keine Grenze gesteckt wird, so daß sie schließlich bei einem wüsten Knäuel
von Schmutz und Blut anlangt. Und als ob die Künstler es empfunden hätten,
daß sie dies Gräßliche wieder wenn auch nicht ausgleichen, so doch einigermaßen
wieder gut machen müßten, verwenden sie auf die Darstellung des Momentes
die ganze Kraft ihres großen Talentes, wie wenn sie uns durch das dem Moment
zukommende Interesse, durch die überwältigende Kühnheit des Aufbaus, durch
das sorgfältige Abwäge» der Gestalten, durch die meisterhafte Gruppirung, durch
die stmmenswerthe Technik, durch die verschwenderische Fülle körperlicher Schön¬
heit an den dargestellten Augenblick fesseln und unsere Phantasie verhindern
wollten, die Gräßlichkeit der nächsten Augenblicke sich fortdichtend auszumalen.
Diese freilich vergeblich aufgewendete künstlerische Kraft läßt sich selbst noch nach
den starken Ergänzungen und Überarbeitungen erkennen, welche jedoch im
Großen und Ganzen die ursprüngliche Gesammtwirkung zur Geltung kommen
lassen. Nur darin dürfte die Ergänzung Unrecht haben, daß Zethos die Dirke
nicht am Haare faßt, wie es uns ein Cameo in Neapel zeigt: das Gewaltsame,
Unentrinnbare der Situation gewinnt durch dieses Motiv außerordentlich. Das
malerische Element der Gruppirung wird noch dnrch die naturalistische Darstel¬
lung des Kithäron mit seinem Gethier erhöht, zumal der felsige, ansteigende
Bergboden Gelegenheit zu verschiedener Höhe des Planes der Handlung und
zu kühnster Stellung giebt, wie sie Amphion zeigt. Aber alle diese entschiedenen
Vorzüge können über den Grundmängel nicht hinwegtäuschen: die beabsichtigte
Tragik wird durch das Mittel eines im höchsten Grade gräßlichen körperlichen
Leidens hervorgebracht, welches zwar noch nicht unmittelbar vor unseren Augen
stattfindet, aber unfehlbar eintritt. Von einem seelischen Leiden ist nichts zu
sehen; jeder ist ganz und ausschließlich bei der Sache, für einen seelischen Reflex
bleibt weder Zeit noch Raum. Selbst wo eine Möglichkeit hierzu gegeben ge¬
wesen wäre, wie in dem zuschauenden Hirten oder Berggott, läßt sich nichts
von Aufregung oder besonderer Theilnahme erkennen. Eine zweite Möglichkeit
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