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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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vorzüglich die Rechtspflege, obwohl einige der hervorragendsten Richter sich in
einer bedenklichen Weise in den Dienst der politischen Partei gestellt haben:
vorzüglich die Schule, obwohl sie, nur nach der liberalen Simultanschablone
reformirt, des Hauptfaktors, des erziehlichen Elementes, gar sehr ermangelt;
vorzüglich die Kirche, obwohl man sie am liebsten nur aus dem Protestantenverein
rekrutirt hätte; vorzüglich das Städtewesen, obwohl in Folge der zahlreichen,
ans mangelhafter Städteordnung resultirenden Konflikte eine gesunde und frei¬
heitliche Entwickelung des Bürgerthums geradezu ausgeschlossen ist -- kurz
alles, alles vorzüglich. Das ist das Glaubensbekenntniß des liberalen Muster¬
staatsbürgers. Dadurch ist aber in unserm politischen Leben eine Versumpfung
eingetreten, wie man sie sonst nur reaktionären Staatswesen nachsagt, eine
Versumpfung, die das Wort vollständig zu rechtfertigen scheint, welches man
einem unserer Minister a. D. -- wer kann sagen, ob mit, ob ohne Recht --
in den Mund legt: in Baden sei alles morsch und faul. Es wäre interessant,
hätte wenigstens ein pathologisches Interesse, den Gründen hierfür, die ja zum
nicht geringen Theil in der eigenartigen geschichtlichen Entwickelung Badens
liegen, nachzuspüren; für heute muß es uns genügen, in diesen merkwürdigen
Zuständen selbst die Gründe zu erblicken für die Parteiverschiebung, die wir
soeben sich vollziehen sehen. Die sogenannte liberale Partei ist hier eigentlich
die konservative, und gerade durch die sogenannte konservative Bewegung wird
ein neues und belebendes Fluidum in die stabile Masse getragen werden. Es
wird dadurch möglich sein, daß das wahrhaft freisinnige Bürger- und Bauern-
thum, welches sich während der zwanzigjährigen Herrschaft des Liberalismus
fast jedes Selbstbestimmungsrechtes begeben hatte, von der Verbeamtnng sich
befreit, der es bis zum Aufgeben jeder eigenen, von der Schablone abweichenden
freien Meinung unterworfen worden war.

In dem Wahne, alles gut gemacht zu haben und alleiniger und (bis auf
zwölf Wahlkreise) unangefochtener Herr der Situation zu sein, ging der badi¬
sche Liberalismus blind und taub einher. Hier trat ihm kein Reaktionsgeschrei
entgegen, aber auch nicht die ernste und wiederkehrende Mahnung, das Ge¬
wordene auf seinen wahren Werth zu prüfen. Das hat sich jetzt wie mit einem
Schlage geändert. Der Bevölkerung beginnen die Augen aufzugehen über die
Ziele der seitherigen Entwickelung, über die Errungenschaften, deren Lob ihr
in allen Tonarten vorgesungen worden, über die Früchte, welche das herrschende
System getragen. Man findet, daß die Früchte sehr wurmstichig sind. In
Preußen hat man ja im Laufe weniger Jahre die gleiche Erfahrung gemacht;
aber dort konnten sich die, die das verschuldet, leicht helfen; man machte einfach
das System Muster verantwortlich und glaubte nun glänzend gerechtfertigt zu
sein. In Baden sitzt der Liberalismus seit nahezu einem Menschenalter im


vorzüglich die Rechtspflege, obwohl einige der hervorragendsten Richter sich in
einer bedenklichen Weise in den Dienst der politischen Partei gestellt haben:
vorzüglich die Schule, obwohl sie, nur nach der liberalen Simultanschablone
reformirt, des Hauptfaktors, des erziehlichen Elementes, gar sehr ermangelt;
vorzüglich die Kirche, obwohl man sie am liebsten nur aus dem Protestantenverein
rekrutirt hätte; vorzüglich das Städtewesen, obwohl in Folge der zahlreichen,
ans mangelhafter Städteordnung resultirenden Konflikte eine gesunde und frei¬
heitliche Entwickelung des Bürgerthums geradezu ausgeschlossen ist — kurz
alles, alles vorzüglich. Das ist das Glaubensbekenntniß des liberalen Muster¬
staatsbürgers. Dadurch ist aber in unserm politischen Leben eine Versumpfung
eingetreten, wie man sie sonst nur reaktionären Staatswesen nachsagt, eine
Versumpfung, die das Wort vollständig zu rechtfertigen scheint, welches man
einem unserer Minister a. D. — wer kann sagen, ob mit, ob ohne Recht —
in den Mund legt: in Baden sei alles morsch und faul. Es wäre interessant,
hätte wenigstens ein pathologisches Interesse, den Gründen hierfür, die ja zum
nicht geringen Theil in der eigenartigen geschichtlichen Entwickelung Badens
liegen, nachzuspüren; für heute muß es uns genügen, in diesen merkwürdigen
Zuständen selbst die Gründe zu erblicken für die Parteiverschiebung, die wir
soeben sich vollziehen sehen. Die sogenannte liberale Partei ist hier eigentlich
die konservative, und gerade durch die sogenannte konservative Bewegung wird
ein neues und belebendes Fluidum in die stabile Masse getragen werden. Es
wird dadurch möglich sein, daß das wahrhaft freisinnige Bürger- und Bauern-
thum, welches sich während der zwanzigjährigen Herrschaft des Liberalismus
fast jedes Selbstbestimmungsrechtes begeben hatte, von der Verbeamtnng sich
befreit, der es bis zum Aufgeben jeder eigenen, von der Schablone abweichenden
freien Meinung unterworfen worden war.

In dem Wahne, alles gut gemacht zu haben und alleiniger und (bis auf
zwölf Wahlkreise) unangefochtener Herr der Situation zu sein, ging der badi¬
sche Liberalismus blind und taub einher. Hier trat ihm kein Reaktionsgeschrei
entgegen, aber auch nicht die ernste und wiederkehrende Mahnung, das Ge¬
wordene auf seinen wahren Werth zu prüfen. Das hat sich jetzt wie mit einem
Schlage geändert. Der Bevölkerung beginnen die Augen aufzugehen über die
Ziele der seitherigen Entwickelung, über die Errungenschaften, deren Lob ihr
in allen Tonarten vorgesungen worden, über die Früchte, welche das herrschende
System getragen. Man findet, daß die Früchte sehr wurmstichig sind. In
Preußen hat man ja im Laufe weniger Jahre die gleiche Erfahrung gemacht;
aber dort konnten sich die, die das verschuldet, leicht helfen; man machte einfach
das System Muster verantwortlich und glaubte nun glänzend gerechtfertigt zu
sein. In Baden sitzt der Liberalismus seit nahezu einem Menschenalter im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/91>, abgerufen am 23.07.2024.