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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Absurditäten erscheint uns diese Literatur im Mittelalter. Welchen Mißbrauch
trieb man mit der Heiligen Schrift! Auf jedes ihrer Worte wird Gewicht
gelegt, die weitgehendsten Folgerungen werden ans den Erklärungen derselben
gezogen. Bis zum Ueberdruß wird wiederholt, daß die von Gott im Anfang
der Dinge erschaffene Sonne die Kirche repräsentirt, den Staat der Mond,
der geringer ist als die Sonne, an Größe wie an Eigenschaften, an Lage und
Wirkung, und erst von dieser sein Licht empfängt. Ja, man sucht sogar darnach
das Größenverhältniß zwischen Papst und Kaiser arithmetisch festzustellen. Wie
oft hat man den Ausspruch Christi bei Matthäus: "Alle Gewalt ist mir ge¬
geben im Himmel und auf Erden" auf die weltliche Regierungsgewalt gedeutet,
deren Ausübung im Leben Christi eifrig nachgewiesen wurde!

In höherem Maße erregen die Schriften der Opposition unser Interesse.
Eigenartiger und kühner zeigt sich Jeder, der gegen den Strom der herr¬
schenden Meinung zu schwimmen versucht. Neue Bahnen werden hier betreten,
um die Wahrheit zu finden, leidenschaftlich bewegt erscheint die Darstellung,
selbst zu dramatischer Form sich steigernd. Aber alle jene Schriftsteller, selbst
so hervorragende und aufgeklärte Geister wie Johann von Paris und Dante,
verfallen doch in denselben Fehler wie ihre Gegner und verlieren sich in einer
absurden Auslegungsweise der Schrift. ,

Nur ein Einziger unter ihnen vermag auch uns noch durch seine schnei¬
dige Schärfe, durch sein reiches Wissen und die überströmende Fülle seiner
Gedanken anzuziehen. Dieser Einzige, dem es gelungen ist, die Fesseln der
Zeit und des Standes abzustreifen, ist Marsiglio.

Marsiglio Raimondini (latinisirt Marsilius) war ungefähr um das
Jahr 1270 von niederem Stande in Padua geboren. Die freie republikanische
Verfassung seiner Vaterstadt ist für seine ganze Entwickelung von entscheidenden
Einflüsse gewesen; durch sie wurde er zu einem begeisterten Anhänger der
antiken Staatstheorieen. Nachdem er in Padua, damals einer blühenden
Pflanzschule der Gelehrsamkeit, Philosophie studirt hatte, verließ er die Heimat.
Ueber seine folgenden Lebensschicksale wissen wir wenig. Nur zwei wichtige
Thatsachen zeigt eine freundschaftliche Epistel, welche der Geschichtschreiber und
Dichter Albertino Mussato aus Padua seinem Landsmanne widmet: einmal
daß die ungewöhnliche Begabung des Paduaners schon früh die Aufmerksamkeit
auf sich zog, sodann daß er eine vielbewegte Jugendzeit durchlebt hatte.

Im Beginn des 14. Jahrhunderts finden wir Marsiglio als Magister in
der Artistenfakultät der Universität Paris. Er muß damals schon im Besitze
hervorragenden Ansehens gewesen sein, denn 1312 wählte man ihn zum Rektor
der Universität, und als solcher bewährte er eine erfolgreiche Thätigkeit, wie
einige unter seinem Vorsitze und auf seine Veranlassung gefaßte wichtige Ver-


Absurditäten erscheint uns diese Literatur im Mittelalter. Welchen Mißbrauch
trieb man mit der Heiligen Schrift! Auf jedes ihrer Worte wird Gewicht
gelegt, die weitgehendsten Folgerungen werden ans den Erklärungen derselben
gezogen. Bis zum Ueberdruß wird wiederholt, daß die von Gott im Anfang
der Dinge erschaffene Sonne die Kirche repräsentirt, den Staat der Mond,
der geringer ist als die Sonne, an Größe wie an Eigenschaften, an Lage und
Wirkung, und erst von dieser sein Licht empfängt. Ja, man sucht sogar darnach
das Größenverhältniß zwischen Papst und Kaiser arithmetisch festzustellen. Wie
oft hat man den Ausspruch Christi bei Matthäus: „Alle Gewalt ist mir ge¬
geben im Himmel und auf Erden" auf die weltliche Regierungsgewalt gedeutet,
deren Ausübung im Leben Christi eifrig nachgewiesen wurde!

In höherem Maße erregen die Schriften der Opposition unser Interesse.
Eigenartiger und kühner zeigt sich Jeder, der gegen den Strom der herr¬
schenden Meinung zu schwimmen versucht. Neue Bahnen werden hier betreten,
um die Wahrheit zu finden, leidenschaftlich bewegt erscheint die Darstellung,
selbst zu dramatischer Form sich steigernd. Aber alle jene Schriftsteller, selbst
so hervorragende und aufgeklärte Geister wie Johann von Paris und Dante,
verfallen doch in denselben Fehler wie ihre Gegner und verlieren sich in einer
absurden Auslegungsweise der Schrift. ,

Nur ein Einziger unter ihnen vermag auch uns noch durch seine schnei¬
dige Schärfe, durch sein reiches Wissen und die überströmende Fülle seiner
Gedanken anzuziehen. Dieser Einzige, dem es gelungen ist, die Fesseln der
Zeit und des Standes abzustreifen, ist Marsiglio.

Marsiglio Raimondini (latinisirt Marsilius) war ungefähr um das
Jahr 1270 von niederem Stande in Padua geboren. Die freie republikanische
Verfassung seiner Vaterstadt ist für seine ganze Entwickelung von entscheidenden
Einflüsse gewesen; durch sie wurde er zu einem begeisterten Anhänger der
antiken Staatstheorieen. Nachdem er in Padua, damals einer blühenden
Pflanzschule der Gelehrsamkeit, Philosophie studirt hatte, verließ er die Heimat.
Ueber seine folgenden Lebensschicksale wissen wir wenig. Nur zwei wichtige
Thatsachen zeigt eine freundschaftliche Epistel, welche der Geschichtschreiber und
Dichter Albertino Mussato aus Padua seinem Landsmanne widmet: einmal
daß die ungewöhnliche Begabung des Paduaners schon früh die Aufmerksamkeit
auf sich zog, sodann daß er eine vielbewegte Jugendzeit durchlebt hatte.

Im Beginn des 14. Jahrhunderts finden wir Marsiglio als Magister in
der Artistenfakultät der Universität Paris. Er muß damals schon im Besitze
hervorragenden Ansehens gewesen sein, denn 1312 wählte man ihn zum Rektor
der Universität, und als solcher bewährte er eine erfolgreiche Thätigkeit, wie
einige unter seinem Vorsitze und auf seine Veranlassung gefaßte wichtige Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/9>, abgerufen am 23.07.2024.