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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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der Aufenthaltsort der jugendlichen Genossen Goethes nicht allein ein recht
räuchriges, sondern auch ein recht sicheres Nest sein mußte, wo manches un¬
behindert um die Außenwelt gebrütet werden konnte.

Wir sind der Ueberzeugung, daß jeder, der an der Hand des Goethescher
Briefs die alte klassische Stätte näher prüft, sie wiedererkennen wird, so sehr
auch der Zahn der Zeit an ihr genagt hat. Die großen Veränderungen, welche
in Frankfurt jetzt in unmittelbarer Nähe des Klingerhauses sich vollziehen, geben
der Befürchtung Raum, daß bald auch die letzten Spuren dieser bedeutsamen
Stelle vertilgt sein werden, wenn Frankfurt sich nicht in letzter Stunde veranlaßt
sieht, mit schützender Hand die vernichtenden Streiche von dem Klingerhause
abzuwehren.

Möchte die Stätte, der Goethe selbst in seinem Briefe eine so hohe Be¬
deutung beilegt, in Frankfurts Mauern vor dem Untergange bewahrt werden!


C. A. H. Burkhardt.


Line Lpisode aus dem Jeldzuge in Zentral-Mer.
Von N. N. Karasin.
(Aus dem Russischen von I. Kurz.) (Schluß.)

Der Kopf schmerzte mich unerträglich, und in den Ohren summte mir ein
dumpfes Getöse. Die linke Hand fühlte ich fast gar nicht mehr, ich hatte genau
die Empfindung, als ob sie mir, wie man zu sagen pflegt, "eingeschlafen" wäre;
scharfe Stiche prickelten mir in den Fingern und in der ganzen Hand. Am
meisten aber schmerzten mich die Fußknöchel; diese waren mit einem feinen
Haarseil so fest zusammengeschnürt, daß die Schlinge die Haut durchschnitt und
bluttriefend immer tiefer ins Fleisch eindrang. Dies verursachte mir einen
brennenden Schmerz, und dieser war's, der mich wahrscheinlich wieder zum
Bewußtsein brachte.

Ich empfand eine starke, schaukelnde Bewegung, eine Hand hielt mich am
Gürtel fest, rings um mich schnaubten und stampften Pferde, ich vernahm ein
undeutliches Gespräch in gedämpften Kehllauten. Jetzt knallten Schüsse -- einer,
zwei, drei -- aus großer Entfernung dröhnte eine ganze Salve -- sie ver¬
stummte und begann dann aus noch größerer Ferne aufs neue. "Wir kommen


der Aufenthaltsort der jugendlichen Genossen Goethes nicht allein ein recht
räuchriges, sondern auch ein recht sicheres Nest sein mußte, wo manches un¬
behindert um die Außenwelt gebrütet werden konnte.

Wir sind der Ueberzeugung, daß jeder, der an der Hand des Goethescher
Briefs die alte klassische Stätte näher prüft, sie wiedererkennen wird, so sehr
auch der Zahn der Zeit an ihr genagt hat. Die großen Veränderungen, welche
in Frankfurt jetzt in unmittelbarer Nähe des Klingerhauses sich vollziehen, geben
der Befürchtung Raum, daß bald auch die letzten Spuren dieser bedeutsamen
Stelle vertilgt sein werden, wenn Frankfurt sich nicht in letzter Stunde veranlaßt
sieht, mit schützender Hand die vernichtenden Streiche von dem Klingerhause
abzuwehren.

Möchte die Stätte, der Goethe selbst in seinem Briefe eine so hohe Be¬
deutung beilegt, in Frankfurts Mauern vor dem Untergange bewahrt werden!


C. A. H. Burkhardt.


Line Lpisode aus dem Jeldzuge in Zentral-Mer.
Von N. N. Karasin.
(Aus dem Russischen von I. Kurz.) (Schluß.)

Der Kopf schmerzte mich unerträglich, und in den Ohren summte mir ein
dumpfes Getöse. Die linke Hand fühlte ich fast gar nicht mehr, ich hatte genau
die Empfindung, als ob sie mir, wie man zu sagen pflegt, „eingeschlafen" wäre;
scharfe Stiche prickelten mir in den Fingern und in der ganzen Hand. Am
meisten aber schmerzten mich die Fußknöchel; diese waren mit einem feinen
Haarseil so fest zusammengeschnürt, daß die Schlinge die Haut durchschnitt und
bluttriefend immer tiefer ins Fleisch eindrang. Dies verursachte mir einen
brennenden Schmerz, und dieser war's, der mich wahrscheinlich wieder zum
Bewußtsein brachte.

Ich empfand eine starke, schaukelnde Bewegung, eine Hand hielt mich am
Gürtel fest, rings um mich schnaubten und stampften Pferde, ich vernahm ein
undeutliches Gespräch in gedämpften Kehllauten. Jetzt knallten Schüsse — einer,
zwei, drei — aus großer Entfernung dröhnte eine ganze Salve — sie ver¬
stummte und begann dann aus noch größerer Ferne aufs neue. „Wir kommen


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[0075] der Aufenthaltsort der jugendlichen Genossen Goethes nicht allein ein recht räuchriges, sondern auch ein recht sicheres Nest sein mußte, wo manches un¬ behindert um die Außenwelt gebrütet werden konnte. Wir sind der Ueberzeugung, daß jeder, der an der Hand des Goethescher Briefs die alte klassische Stätte näher prüft, sie wiedererkennen wird, so sehr auch der Zahn der Zeit an ihr genagt hat. Die großen Veränderungen, welche in Frankfurt jetzt in unmittelbarer Nähe des Klingerhauses sich vollziehen, geben der Befürchtung Raum, daß bald auch die letzten Spuren dieser bedeutsamen Stelle vertilgt sein werden, wenn Frankfurt sich nicht in letzter Stunde veranlaßt sieht, mit schützender Hand die vernichtenden Streiche von dem Klingerhause abzuwehren. Möchte die Stätte, der Goethe selbst in seinem Briefe eine so hohe Be¬ deutung beilegt, in Frankfurts Mauern vor dem Untergange bewahrt werden! C. A. H. Burkhardt. Line Lpisode aus dem Jeldzuge in Zentral-Mer. Von N. N. Karasin. (Aus dem Russischen von I. Kurz.) (Schluß.) Der Kopf schmerzte mich unerträglich, und in den Ohren summte mir ein dumpfes Getöse. Die linke Hand fühlte ich fast gar nicht mehr, ich hatte genau die Empfindung, als ob sie mir, wie man zu sagen pflegt, „eingeschlafen" wäre; scharfe Stiche prickelten mir in den Fingern und in der ganzen Hand. Am meisten aber schmerzten mich die Fußknöchel; diese waren mit einem feinen Haarseil so fest zusammengeschnürt, daß die Schlinge die Haut durchschnitt und bluttriefend immer tiefer ins Fleisch eindrang. Dies verursachte mir einen brennenden Schmerz, und dieser war's, der mich wahrscheinlich wieder zum Bewußtsein brachte. Ich empfand eine starke, schaukelnde Bewegung, eine Hand hielt mich am Gürtel fest, rings um mich schnaubten und stampften Pferde, ich vernahm ein undeutliches Gespräch in gedämpften Kehllauten. Jetzt knallten Schüsse — einer, zwei, drei — aus großer Entfernung dröhnte eine ganze Salve — sie ver¬ stummte und begann dann aus noch größerer Ferne aufs neue. „Wir kommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/75>, abgerufen am 23.07.2024.