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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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die Bedeutung einer Demonstration des russischen Friedensbedürfnisses für
jetzt, für die Zukunft aber gar keine. Kommt daher eine wirkliche Annähe¬
rung zwischen Rußland und den zusammenstehenden Mächten Mitteleuropas
durch den Besuch des Zarewitsch zu Stande, so müssen wir annehmen, letzterer
sei sich selbst klar darüber geworden, daß dieselbe wenigstens für die Gegen¬
wart zu wünschen ist, und es habe bei ihm nur einer einfachen Anregung zu
der Reise über Wien und Berlin bedurft.

Derselbe könnte aber auch weiter gelangt sein. Die wahren Interessen
Rußlands differiren mit denen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns nicht.
Sie werden nicht durch pcmslawistische Phantasien und Velleitäten und nicht
durch die von den nationalen gepflegten und betonten Traditionen ausgedrückt.
Sie liegen ganz wo anders als in dem Bestreben nach der Eroberung Kon¬
stantinopels und der Zertrümmerung Oesterreichs. Das wahre Interesse Ru߬
lands berührt sich mit dem Interesse seiner nächsten westlichen Nachbarn, und
zwar in Polen, in Frankreich, das einer neuen, mit dem Ziele des Nihilismus
verwandten Revolution entgegengeht, in der Erhaltung des Weltfriedens und
zu dem Zwecke in gutem Einvernehmen mit einer vermittelnden Macht in der
Mitte Europas, welche diesen Frieden will und wollen muß. Mächte, welche
einen Weltkrieg entzünden können, gibt es nur zwei: ein nach den Phantasien
der Panslawisten geleitetes Rußland und -- England, und wenn wir in
Deutschland unbillige Ansprüche des ersteren nicht unterstützt haben, so sind
wir darum noch keineswegs verpflichtet, künftig solchen Ansprüchen Englands
zur Durchführung zu verhelfen.

Auch das könnte sich der zukünftige Zar durch Nachdenken klar gemacht
haben, und sein Besuch könnte bestimmt sein, dies zu bekunden. Er ist eine
ernste Natur und gilt für aufrichtig. Hat er die oben bezeichnete Ueberzeugung
in der That gewonnen, die, wie zu glauben, schon länger die seines kaiserlichen
Vaters ist, so wird man sein Erscheinen in unserer Kaiserstadt als ein glück¬
liches Ereigniß zu betrachten haben und bereitwillig die zur Versöhnung ge¬
botene Hand ergreifen. Dann aber würde man voraussetzen müssen, daß auch
mit Oesterreich-Ungarn eine ernstliche Verständigung ohne Hintergedanken statt¬
gefunden habe. Denn Wien wird uns fortan, so lange die jetzige Gesinnung
dort lebt, wie geographisch so auch in anderen Beziehungen immer näher liegen
als Petersburg.




Für die Redaktion verantwortlich! Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig- -- Druck von Hüthel K Herrmann in Leipzig.

die Bedeutung einer Demonstration des russischen Friedensbedürfnisses für
jetzt, für die Zukunft aber gar keine. Kommt daher eine wirkliche Annähe¬
rung zwischen Rußland und den zusammenstehenden Mächten Mitteleuropas
durch den Besuch des Zarewitsch zu Stande, so müssen wir annehmen, letzterer
sei sich selbst klar darüber geworden, daß dieselbe wenigstens für die Gegen¬
wart zu wünschen ist, und es habe bei ihm nur einer einfachen Anregung zu
der Reise über Wien und Berlin bedurft.

Derselbe könnte aber auch weiter gelangt sein. Die wahren Interessen
Rußlands differiren mit denen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns nicht.
Sie werden nicht durch pcmslawistische Phantasien und Velleitäten und nicht
durch die von den nationalen gepflegten und betonten Traditionen ausgedrückt.
Sie liegen ganz wo anders als in dem Bestreben nach der Eroberung Kon¬
stantinopels und der Zertrümmerung Oesterreichs. Das wahre Interesse Ru߬
lands berührt sich mit dem Interesse seiner nächsten westlichen Nachbarn, und
zwar in Polen, in Frankreich, das einer neuen, mit dem Ziele des Nihilismus
verwandten Revolution entgegengeht, in der Erhaltung des Weltfriedens und
zu dem Zwecke in gutem Einvernehmen mit einer vermittelnden Macht in der
Mitte Europas, welche diesen Frieden will und wollen muß. Mächte, welche
einen Weltkrieg entzünden können, gibt es nur zwei: ein nach den Phantasien
der Panslawisten geleitetes Rußland und — England, und wenn wir in
Deutschland unbillige Ansprüche des ersteren nicht unterstützt haben, so sind
wir darum noch keineswegs verpflichtet, künftig solchen Ansprüchen Englands
zur Durchführung zu verhelfen.

Auch das könnte sich der zukünftige Zar durch Nachdenken klar gemacht
haben, und sein Besuch könnte bestimmt sein, dies zu bekunden. Er ist eine
ernste Natur und gilt für aufrichtig. Hat er die oben bezeichnete Ueberzeugung
in der That gewonnen, die, wie zu glauben, schon länger die seines kaiserlichen
Vaters ist, so wird man sein Erscheinen in unserer Kaiserstadt als ein glück¬
liches Ereigniß zu betrachten haben und bereitwillig die zur Versöhnung ge¬
botene Hand ergreifen. Dann aber würde man voraussetzen müssen, daß auch
mit Oesterreich-Ungarn eine ernstliche Verständigung ohne Hintergedanken statt¬
gefunden habe. Denn Wien wird uns fortan, so lange die jetzige Gesinnung
dort lebt, wie geographisch so auch in anderen Beziehungen immer näher liegen
als Petersburg.




Für die Redaktion verantwortlich! Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig- — Druck von Hüthel K Herrmann in Leipzig.
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[0348] die Bedeutung einer Demonstration des russischen Friedensbedürfnisses für jetzt, für die Zukunft aber gar keine. Kommt daher eine wirkliche Annähe¬ rung zwischen Rußland und den zusammenstehenden Mächten Mitteleuropas durch den Besuch des Zarewitsch zu Stande, so müssen wir annehmen, letzterer sei sich selbst klar darüber geworden, daß dieselbe wenigstens für die Gegen¬ wart zu wünschen ist, und es habe bei ihm nur einer einfachen Anregung zu der Reise über Wien und Berlin bedurft. Derselbe könnte aber auch weiter gelangt sein. Die wahren Interessen Rußlands differiren mit denen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns nicht. Sie werden nicht durch pcmslawistische Phantasien und Velleitäten und nicht durch die von den nationalen gepflegten und betonten Traditionen ausgedrückt. Sie liegen ganz wo anders als in dem Bestreben nach der Eroberung Kon¬ stantinopels und der Zertrümmerung Oesterreichs. Das wahre Interesse Ru߬ lands berührt sich mit dem Interesse seiner nächsten westlichen Nachbarn, und zwar in Polen, in Frankreich, das einer neuen, mit dem Ziele des Nihilismus verwandten Revolution entgegengeht, in der Erhaltung des Weltfriedens und zu dem Zwecke in gutem Einvernehmen mit einer vermittelnden Macht in der Mitte Europas, welche diesen Frieden will und wollen muß. Mächte, welche einen Weltkrieg entzünden können, gibt es nur zwei: ein nach den Phantasien der Panslawisten geleitetes Rußland und — England, und wenn wir in Deutschland unbillige Ansprüche des ersteren nicht unterstützt haben, so sind wir darum noch keineswegs verpflichtet, künftig solchen Ansprüchen Englands zur Durchführung zu verhelfen. Auch das könnte sich der zukünftige Zar durch Nachdenken klar gemacht haben, und sein Besuch könnte bestimmt sein, dies zu bekunden. Er ist eine ernste Natur und gilt für aufrichtig. Hat er die oben bezeichnete Ueberzeugung in der That gewonnen, die, wie zu glauben, schon länger die seines kaiserlichen Vaters ist, so wird man sein Erscheinen in unserer Kaiserstadt als ein glück¬ liches Ereigniß zu betrachten haben und bereitwillig die zur Versöhnung ge¬ botene Hand ergreifen. Dann aber würde man voraussetzen müssen, daß auch mit Oesterreich-Ungarn eine ernstliche Verständigung ohne Hintergedanken statt¬ gefunden habe. Denn Wien wird uns fortan, so lange die jetzige Gesinnung dort lebt, wie geographisch so auch in anderen Beziehungen immer näher liegen als Petersburg. Für die Redaktion verantwortlich! Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig- — Druck von Hüthel K Herrmann in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/348>, abgerufen am 03.07.2024.