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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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gestellt: das 1. baierische Armeekorps bei der Einnahme von Orleans, welches
zu den wenigen Bildern der internationalen Kunstausstellung in München gehört,
an denen man eine ungelenke Freude empfindet. Wenn die gegenwärtige
akademische Kunstausstellung in Berlin an Kriegsbildern ärmer ist als die
früheren -- die beiden bedeutendsten, Bleibtreus Kaiser Wilhelm vor Paris
und Freybergs Moment aus der Schlacht bei Le Mans, haben wir schon
erwähnt --, so trägt das Geschrei der hauptstädtischen demokratische" Presse,
welche die "Schlachtenmaler" grundsätzlich verhöhnt, glücklicherweise keine Schuld
daran. Mehrere unsrer ersten Militärmaler sind gegenwärtig mit großen Auf¬
gaben beschäftigt, welche ihre ganze Thätigkeit in Anspruch nehmen.

Die Zahl der Genremaler, welche dem abgegrasten Felde der Kalender¬
bilder den Rücken kehren und mit resoluter Hand in das Leben unserer Zeit
hineingreifen, wird glücklicherweise immer größer. Der Düsseldorfer Bokel-
mann hat die hohen Erwartungen, die man nach seinen beiden Bildern von
1877 und 1878 "Zusammenbruch einer Volksbank" und "Wanderlager zur
Winterszeit" auf die weitere Entwickelung seines Talents zu setzen berechtigt
war, in hohem Grade erfüllt. Die "Testamentseröffnung," ein Gemälde mit
einer Fülle ungemein scharf charakterisirter und lebendig gezeichneter Figuren,
welche alle Typen Erbschaftsbeflissener, vom intriganten Erbschleicher bis zur
armen verschüchterten Waise, repräsentiren, interessirt ebensosehr stofflich durch
die novellistische Pointirung der ihrer Katastrophe entgegenschreitenden Hand¬
lung wie durch die Noblesse des kühlen, auf einen silbernen Gesammtton ge¬
stimmten Kolorits. Mit wunderbarer Schärfe sind alle Stoffe durch die male¬
rische Behandlung charakterisirt; aber die letztere ist so wenig Hauptzweck des
Bildes, daß man sie erst zu bewundern anfängt, wenn man die physiognomische
Vertiefung der ausdrucksvollen Köpfe hinlänglich gewürdigt hat. Aus der
drückenden Schwüle egoistischer Interessen, die in Bokelmann einen ernsten
Sittenschilderer gefunden haben, führt uns Wilhelm Hasemann in Weimar
in sonntägliche Festesstimmung eines Thüringer Dorfes. Vor einer alten
Kirche wird unter lebhaftester, begeistertster Theilnahme der Dorfbewohner eine
Friedenseiche gepflanzt. Der greise Pfarrer ruft eben den Segen des Himmels
anf das Gedeihen des jungen Stammes herab, und andächtig lauscht die Gemeinde
den Worte" ihres Seelenhirten. Hasemann ist kein glänzender Kolorist, nicht
einmal ein Maler im eigentlichen Sinne, der durch koloristische Effekte das
Interesse des Beschauers an der einfachen, alltäglichen Szene zu erhöhen wüßte.
Auf eine gewisse Entfernung sieht man auf seinem Bilde ein unruhiges Gewirr
von gelben, rothen und braunen Flecken, die sich nimmer zu einer leidlichen
Harmonie verstehen wollen. Seine Stärke liegt in der mannigfaltigen Charak¬
teristik der Figuren, welche als das Resultat fleißigen Naturstudiums erscheint.


gestellt: das 1. baierische Armeekorps bei der Einnahme von Orleans, welches
zu den wenigen Bildern der internationalen Kunstausstellung in München gehört,
an denen man eine ungelenke Freude empfindet. Wenn die gegenwärtige
akademische Kunstausstellung in Berlin an Kriegsbildern ärmer ist als die
früheren — die beiden bedeutendsten, Bleibtreus Kaiser Wilhelm vor Paris
und Freybergs Moment aus der Schlacht bei Le Mans, haben wir schon
erwähnt —, so trägt das Geschrei der hauptstädtischen demokratische» Presse,
welche die „Schlachtenmaler" grundsätzlich verhöhnt, glücklicherweise keine Schuld
daran. Mehrere unsrer ersten Militärmaler sind gegenwärtig mit großen Auf¬
gaben beschäftigt, welche ihre ganze Thätigkeit in Anspruch nehmen.

Die Zahl der Genremaler, welche dem abgegrasten Felde der Kalender¬
bilder den Rücken kehren und mit resoluter Hand in das Leben unserer Zeit
hineingreifen, wird glücklicherweise immer größer. Der Düsseldorfer Bokel-
mann hat die hohen Erwartungen, die man nach seinen beiden Bildern von
1877 und 1878 „Zusammenbruch einer Volksbank" und „Wanderlager zur
Winterszeit" auf die weitere Entwickelung seines Talents zu setzen berechtigt
war, in hohem Grade erfüllt. Die „Testamentseröffnung," ein Gemälde mit
einer Fülle ungemein scharf charakterisirter und lebendig gezeichneter Figuren,
welche alle Typen Erbschaftsbeflissener, vom intriganten Erbschleicher bis zur
armen verschüchterten Waise, repräsentiren, interessirt ebensosehr stofflich durch
die novellistische Pointirung der ihrer Katastrophe entgegenschreitenden Hand¬
lung wie durch die Noblesse des kühlen, auf einen silbernen Gesammtton ge¬
stimmten Kolorits. Mit wunderbarer Schärfe sind alle Stoffe durch die male¬
rische Behandlung charakterisirt; aber die letztere ist so wenig Hauptzweck des
Bildes, daß man sie erst zu bewundern anfängt, wenn man die physiognomische
Vertiefung der ausdrucksvollen Köpfe hinlänglich gewürdigt hat. Aus der
drückenden Schwüle egoistischer Interessen, die in Bokelmann einen ernsten
Sittenschilderer gefunden haben, führt uns Wilhelm Hasemann in Weimar
in sonntägliche Festesstimmung eines Thüringer Dorfes. Vor einer alten
Kirche wird unter lebhaftester, begeistertster Theilnahme der Dorfbewohner eine
Friedenseiche gepflanzt. Der greise Pfarrer ruft eben den Segen des Himmels
anf das Gedeihen des jungen Stammes herab, und andächtig lauscht die Gemeinde
den Worte« ihres Seelenhirten. Hasemann ist kein glänzender Kolorist, nicht
einmal ein Maler im eigentlichen Sinne, der durch koloristische Effekte das
Interesse des Beschauers an der einfachen, alltäglichen Szene zu erhöhen wüßte.
Auf eine gewisse Entfernung sieht man auf seinem Bilde ein unruhiges Gewirr
von gelben, rothen und braunen Flecken, die sich nimmer zu einer leidlichen
Harmonie verstehen wollen. Seine Stärke liegt in der mannigfaltigen Charak¬
teristik der Figuren, welche als das Resultat fleißigen Naturstudiums erscheint.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/33>, abgerufen am 23.07.2024.