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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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bestimmung (Autonomie) dem Sittengesetz gemäß handeln, heißt moralisch han¬
deln. Diese Fähigkeit unterscheidet den Menschen vom Thiere. Hieraus folgt
aber, daß jede moralische Handlung, soweit sie aus einem Willen nach Sitten¬
gesetzen hervorgeht, nicht unter dem Naturgesetze stehen kann. Die moralische
Handlung als solche hebt das Naturgesetz auf.

Dasjenige, was in einer Handlung spezifisch sittlich ist, kann niemals in
den Umständen, sondern nur in der Person liegen. Alle Sittlichkeitsakte fallen,
sobald sie in die Erscheinung (Wirkung) treten, sofort unter das Kausalgesetz
(sie werden Natur), aber ihrer Ursache nach in der sittlichen Persönlichkeit sind
sie frei von allem Sinnlichen. So hoch steht die sittliche Persönlichkeit über
allen Sinnesimpulsen, daß sie befähigt ist, das Leben, ihre eigene sinnliche
Erscheinung, zu verneinen, sobald es darauf ankommt, eine höhere Qualität
als ihre Erscheinungswelt zu retten. Zwei verschiedene Personen werden sich
beim Herantreten der gleichen äußern Umstände entgegengesetzt entscheiden. Die
Gründe hierfür liegen sowohl in dem Mysterium der Person als einer ge¬
schlossenen Totalität, als auch in der freien Persönlichkeit, welche diese Tota¬
lität nur als das sinnliche Objekt ihres Kriteriums nach dem Sittengesetze auf¬
faßt. Die Entscheidung hängt praktisch zum Theil von den in jeder Person
nothwendig kombinirten hereditären Willensimpulsen ab, zum Theil von der
Entschließung eines Willens, der frei von aller Sinnlichkeit ist. Wäre es
möglich, wie dies in der Theorie gestattet ist, alle Handlungen nur vor den
Richterstuhl der sittlichen Entscheidung gelangen zu lassen, so müßte der sitt¬
liche Wille stets erfüllt werden. In der einzelnen Handlung ist, wie schon
Kant bemerkte, das eigentlich Sittliche nur dann und nur da zu finden, wo,
entgegen den hereditären Impulsen, der Jndividualwille aus Achtung vor dem
selbsterkannten Sittengesetz sich bestimmt. Wenn ein Geiziger aus Pflicht sich
zu einer mildthätigen Handlung zwingt, so hat dies sittlichen Werth, thut es
ein freigebiger, wohlthätiger Charakter in Folge hereditärer Disposition, so ist
es sittlich ohne Bedeutung für diese Person. Sittlichkeit ist die Veredelung
der hereditären instinktiven Person aus Achtung vor dem Sittengesetz zur freien
Persönlichkeit. Diese betrachtet das, was sein soll, als die durch ihre theore¬
tische Vernunft, sobald sie in die Erscheinung (Wirkung) tritt, zu begreifende,
ihrer Ursache nach aber nur in Freiheit zu erfassende Aufgabe einer Welt, die
nicht Natur ist. Um das zu können, um die Wirkung zu begreifen, um im
Spezialfall zu entscheiden, was Pflicht sei, dazu bedarf es also nicht schwär¬
merischer und enthusiastischer Duselei, sondern rationaler, verstandesmäßiger
Erwägung und Selbstbestimmung, nicht des Sensualismus, sondern des Ratio¬
nalismus.

Gesetzlichkeit läßt sich befehlen, aber nicht Sittlichkeit. Kein Staat, keine


bestimmung (Autonomie) dem Sittengesetz gemäß handeln, heißt moralisch han¬
deln. Diese Fähigkeit unterscheidet den Menschen vom Thiere. Hieraus folgt
aber, daß jede moralische Handlung, soweit sie aus einem Willen nach Sitten¬
gesetzen hervorgeht, nicht unter dem Naturgesetze stehen kann. Die moralische
Handlung als solche hebt das Naturgesetz auf.

Dasjenige, was in einer Handlung spezifisch sittlich ist, kann niemals in
den Umständen, sondern nur in der Person liegen. Alle Sittlichkeitsakte fallen,
sobald sie in die Erscheinung (Wirkung) treten, sofort unter das Kausalgesetz
(sie werden Natur), aber ihrer Ursache nach in der sittlichen Persönlichkeit sind
sie frei von allem Sinnlichen. So hoch steht die sittliche Persönlichkeit über
allen Sinnesimpulsen, daß sie befähigt ist, das Leben, ihre eigene sinnliche
Erscheinung, zu verneinen, sobald es darauf ankommt, eine höhere Qualität
als ihre Erscheinungswelt zu retten. Zwei verschiedene Personen werden sich
beim Herantreten der gleichen äußern Umstände entgegengesetzt entscheiden. Die
Gründe hierfür liegen sowohl in dem Mysterium der Person als einer ge¬
schlossenen Totalität, als auch in der freien Persönlichkeit, welche diese Tota¬
lität nur als das sinnliche Objekt ihres Kriteriums nach dem Sittengesetze auf¬
faßt. Die Entscheidung hängt praktisch zum Theil von den in jeder Person
nothwendig kombinirten hereditären Willensimpulsen ab, zum Theil von der
Entschließung eines Willens, der frei von aller Sinnlichkeit ist. Wäre es
möglich, wie dies in der Theorie gestattet ist, alle Handlungen nur vor den
Richterstuhl der sittlichen Entscheidung gelangen zu lassen, so müßte der sitt¬
liche Wille stets erfüllt werden. In der einzelnen Handlung ist, wie schon
Kant bemerkte, das eigentlich Sittliche nur dann und nur da zu finden, wo,
entgegen den hereditären Impulsen, der Jndividualwille aus Achtung vor dem
selbsterkannten Sittengesetz sich bestimmt. Wenn ein Geiziger aus Pflicht sich
zu einer mildthätigen Handlung zwingt, so hat dies sittlichen Werth, thut es
ein freigebiger, wohlthätiger Charakter in Folge hereditärer Disposition, so ist
es sittlich ohne Bedeutung für diese Person. Sittlichkeit ist die Veredelung
der hereditären instinktiven Person aus Achtung vor dem Sittengesetz zur freien
Persönlichkeit. Diese betrachtet das, was sein soll, als die durch ihre theore¬
tische Vernunft, sobald sie in die Erscheinung (Wirkung) tritt, zu begreifende,
ihrer Ursache nach aber nur in Freiheit zu erfassende Aufgabe einer Welt, die
nicht Natur ist. Um das zu können, um die Wirkung zu begreifen, um im
Spezialfall zu entscheiden, was Pflicht sei, dazu bedarf es also nicht schwär¬
merischer und enthusiastischer Duselei, sondern rationaler, verstandesmäßiger
Erwägung und Selbstbestimmung, nicht des Sensualismus, sondern des Ratio¬
nalismus.

Gesetzlichkeit läßt sich befehlen, aber nicht Sittlichkeit. Kein Staat, keine


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[0326] bestimmung (Autonomie) dem Sittengesetz gemäß handeln, heißt moralisch han¬ deln. Diese Fähigkeit unterscheidet den Menschen vom Thiere. Hieraus folgt aber, daß jede moralische Handlung, soweit sie aus einem Willen nach Sitten¬ gesetzen hervorgeht, nicht unter dem Naturgesetze stehen kann. Die moralische Handlung als solche hebt das Naturgesetz auf. Dasjenige, was in einer Handlung spezifisch sittlich ist, kann niemals in den Umständen, sondern nur in der Person liegen. Alle Sittlichkeitsakte fallen, sobald sie in die Erscheinung (Wirkung) treten, sofort unter das Kausalgesetz (sie werden Natur), aber ihrer Ursache nach in der sittlichen Persönlichkeit sind sie frei von allem Sinnlichen. So hoch steht die sittliche Persönlichkeit über allen Sinnesimpulsen, daß sie befähigt ist, das Leben, ihre eigene sinnliche Erscheinung, zu verneinen, sobald es darauf ankommt, eine höhere Qualität als ihre Erscheinungswelt zu retten. Zwei verschiedene Personen werden sich beim Herantreten der gleichen äußern Umstände entgegengesetzt entscheiden. Die Gründe hierfür liegen sowohl in dem Mysterium der Person als einer ge¬ schlossenen Totalität, als auch in der freien Persönlichkeit, welche diese Tota¬ lität nur als das sinnliche Objekt ihres Kriteriums nach dem Sittengesetze auf¬ faßt. Die Entscheidung hängt praktisch zum Theil von den in jeder Person nothwendig kombinirten hereditären Willensimpulsen ab, zum Theil von der Entschließung eines Willens, der frei von aller Sinnlichkeit ist. Wäre es möglich, wie dies in der Theorie gestattet ist, alle Handlungen nur vor den Richterstuhl der sittlichen Entscheidung gelangen zu lassen, so müßte der sitt¬ liche Wille stets erfüllt werden. In der einzelnen Handlung ist, wie schon Kant bemerkte, das eigentlich Sittliche nur dann und nur da zu finden, wo, entgegen den hereditären Impulsen, der Jndividualwille aus Achtung vor dem selbsterkannten Sittengesetz sich bestimmt. Wenn ein Geiziger aus Pflicht sich zu einer mildthätigen Handlung zwingt, so hat dies sittlichen Werth, thut es ein freigebiger, wohlthätiger Charakter in Folge hereditärer Disposition, so ist es sittlich ohne Bedeutung für diese Person. Sittlichkeit ist die Veredelung der hereditären instinktiven Person aus Achtung vor dem Sittengesetz zur freien Persönlichkeit. Diese betrachtet das, was sein soll, als die durch ihre theore¬ tische Vernunft, sobald sie in die Erscheinung (Wirkung) tritt, zu begreifende, ihrer Ursache nach aber nur in Freiheit zu erfassende Aufgabe einer Welt, die nicht Natur ist. Um das zu können, um die Wirkung zu begreifen, um im Spezialfall zu entscheiden, was Pflicht sei, dazu bedarf es also nicht schwär¬ merischer und enthusiastischer Duselei, sondern rationaler, verstandesmäßiger Erwägung und Selbstbestimmung, nicht des Sensualismus, sondern des Ratio¬ nalismus. Gesetzlichkeit läßt sich befehlen, aber nicht Sittlichkeit. Kein Staat, keine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/326>, abgerufen am 27.08.2024.