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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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lichkeit, zwischen der täglichen sogenannten "verdammten Pflicht und Schuldig¬
keit" -- die auch allenfalls ein Mechanismus leisten könnte -- und der Er¬
füllung des ethischen Begriffs der Pflicht besteht; diesen voll und ganz zu er¬
füllen ist dem menschlichen Willen unmöglich, aber es bleibt sein Ideal. So
hat der Rationalismus durch seine Freiheitslehre den schrankenlosen Indivi¬
dualismus korrigirt, indem er das entweihte Bild der göttlichen Vernunft, das
man in den menschlich-individuellen Rahmen gefaßt hatte, wieder an den "über¬
irdischen Ort" verwies und dem Individuum als Herrin und Halt für die
verlorene Autorität der Willkür, die der Freiheit, nämlich die Pflicht setzte oder
die Lehre von dem, "was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht".

Jeder Mensch ist zunächst ein Naturprodukt, der Sprößling nothwendiger
Vererbung äußerer Vergangenheit; aber er unterscheidet sich doch von der un¬
vernünftigen Natur dadurch, daß ihn noch die Heredität einer zweiten Kausal¬
reihe erzeugt, nämlich die der vergangenen freien Willensakte seiner Voreltern,
welche Akte in die Erscheinung getreten und dadurch unter das Kausalgesetz
gefallen sind. Somit definiren wir genauer: der Mensch ist die nothwendige
Descendenz äußerer Ereignisse und innerer Willensakte. Die Summe dieser
Faktoren ist gleich den Impulsen, welche den Neugeborenen bestimmen. Hierzu
kommen nun diejenigen Impulse der äußern neuen Welt, in die er hineintritt;
letztere sind für ihn rein zufällig, obwohl sie mit der allgemeinen Ordnung in
Kausalzusammenhang stehen. Gäbe es keine freien Willensakte, und wäre die
Menschheit nichts anderes als eine solche hereditäre Gemeinschaft, fo wäre der
Fortschritt unserer Kultur immer noch erklärlich, aber die Weltanschauung eines
Mitgliedes dieses mechanischen Jnstinktstaates könnte nur der Pessimismus und
der Quietismus sein; es könnte nur Nützlichkeit, keine Sittlichkeit existiren.

Es hat aber zu allen Zeiten, so lange Menschen, d. h. vernünftig-sinnliche
Wesen, existiren, außer den mechanischen und Jnstinktimpulsen auch solche ge¬
geben, welche als das persönliche Eigenthum aus der Totalität des fühlenden
und wollenden Individuums hervorgegangen sind. Diese Impulse machen erst
die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit möglich; sie konstituiren die freie Per¬
sönlichkeit. Der Mensch ist kein rein sinnliches Wesen, sonst müßte er, wie die
Thiere, dem Naturgesetz instinktiv folgen; er ist aber auch kein reines Ver¬
nunftwesen, sonst könnte er durch Naturgesetze gar nicht affizirt und in Ver¬
suchung geführt werden; er ist ein vernünftig-sinnliches Wesen, er kann durch
die sinnlichen Triebe verlockt werden, er kann aber auch, trotz der Lockungen,
diese abweisen, sich nach Vernunftgesetzen selbst bestimmen und darnach handeln.
Das ist Freiheit. Nach welchen Gesetzen reine Vernunft erscheint, wissen wir
nicht; Sinnlichkeit erscheint nach den nothwendigen Naturgesetzen; die Mischung
beider erscheint nach den Gesetzen der Freiheit. Nur in Freiheit, nach Selbst-


Grenzboten IV. 1879. 42

lichkeit, zwischen der täglichen sogenannten „verdammten Pflicht und Schuldig¬
keit" — die auch allenfalls ein Mechanismus leisten könnte — und der Er¬
füllung des ethischen Begriffs der Pflicht besteht; diesen voll und ganz zu er¬
füllen ist dem menschlichen Willen unmöglich, aber es bleibt sein Ideal. So
hat der Rationalismus durch seine Freiheitslehre den schrankenlosen Indivi¬
dualismus korrigirt, indem er das entweihte Bild der göttlichen Vernunft, das
man in den menschlich-individuellen Rahmen gefaßt hatte, wieder an den „über¬
irdischen Ort" verwies und dem Individuum als Herrin und Halt für die
verlorene Autorität der Willkür, die der Freiheit, nämlich die Pflicht setzte oder
die Lehre von dem, „was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht".

Jeder Mensch ist zunächst ein Naturprodukt, der Sprößling nothwendiger
Vererbung äußerer Vergangenheit; aber er unterscheidet sich doch von der un¬
vernünftigen Natur dadurch, daß ihn noch die Heredität einer zweiten Kausal¬
reihe erzeugt, nämlich die der vergangenen freien Willensakte seiner Voreltern,
welche Akte in die Erscheinung getreten und dadurch unter das Kausalgesetz
gefallen sind. Somit definiren wir genauer: der Mensch ist die nothwendige
Descendenz äußerer Ereignisse und innerer Willensakte. Die Summe dieser
Faktoren ist gleich den Impulsen, welche den Neugeborenen bestimmen. Hierzu
kommen nun diejenigen Impulse der äußern neuen Welt, in die er hineintritt;
letztere sind für ihn rein zufällig, obwohl sie mit der allgemeinen Ordnung in
Kausalzusammenhang stehen. Gäbe es keine freien Willensakte, und wäre die
Menschheit nichts anderes als eine solche hereditäre Gemeinschaft, fo wäre der
Fortschritt unserer Kultur immer noch erklärlich, aber die Weltanschauung eines
Mitgliedes dieses mechanischen Jnstinktstaates könnte nur der Pessimismus und
der Quietismus sein; es könnte nur Nützlichkeit, keine Sittlichkeit existiren.

Es hat aber zu allen Zeiten, so lange Menschen, d. h. vernünftig-sinnliche
Wesen, existiren, außer den mechanischen und Jnstinktimpulsen auch solche ge¬
geben, welche als das persönliche Eigenthum aus der Totalität des fühlenden
und wollenden Individuums hervorgegangen sind. Diese Impulse machen erst
die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit möglich; sie konstituiren die freie Per¬
sönlichkeit. Der Mensch ist kein rein sinnliches Wesen, sonst müßte er, wie die
Thiere, dem Naturgesetz instinktiv folgen; er ist aber auch kein reines Ver¬
nunftwesen, sonst könnte er durch Naturgesetze gar nicht affizirt und in Ver¬
suchung geführt werden; er ist ein vernünftig-sinnliches Wesen, er kann durch
die sinnlichen Triebe verlockt werden, er kann aber auch, trotz der Lockungen,
diese abweisen, sich nach Vernunftgesetzen selbst bestimmen und darnach handeln.
Das ist Freiheit. Nach welchen Gesetzen reine Vernunft erscheint, wissen wir
nicht; Sinnlichkeit erscheint nach den nothwendigen Naturgesetzen; die Mischung
beider erscheint nach den Gesetzen der Freiheit. Nur in Freiheit, nach Selbst-


Grenzboten IV. 1879. 42
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[0325] lichkeit, zwischen der täglichen sogenannten „verdammten Pflicht und Schuldig¬ keit" — die auch allenfalls ein Mechanismus leisten könnte — und der Er¬ füllung des ethischen Begriffs der Pflicht besteht; diesen voll und ganz zu er¬ füllen ist dem menschlichen Willen unmöglich, aber es bleibt sein Ideal. So hat der Rationalismus durch seine Freiheitslehre den schrankenlosen Indivi¬ dualismus korrigirt, indem er das entweihte Bild der göttlichen Vernunft, das man in den menschlich-individuellen Rahmen gefaßt hatte, wieder an den „über¬ irdischen Ort" verwies und dem Individuum als Herrin und Halt für die verlorene Autorität der Willkür, die der Freiheit, nämlich die Pflicht setzte oder die Lehre von dem, „was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht". Jeder Mensch ist zunächst ein Naturprodukt, der Sprößling nothwendiger Vererbung äußerer Vergangenheit; aber er unterscheidet sich doch von der un¬ vernünftigen Natur dadurch, daß ihn noch die Heredität einer zweiten Kausal¬ reihe erzeugt, nämlich die der vergangenen freien Willensakte seiner Voreltern, welche Akte in die Erscheinung getreten und dadurch unter das Kausalgesetz gefallen sind. Somit definiren wir genauer: der Mensch ist die nothwendige Descendenz äußerer Ereignisse und innerer Willensakte. Die Summe dieser Faktoren ist gleich den Impulsen, welche den Neugeborenen bestimmen. Hierzu kommen nun diejenigen Impulse der äußern neuen Welt, in die er hineintritt; letztere sind für ihn rein zufällig, obwohl sie mit der allgemeinen Ordnung in Kausalzusammenhang stehen. Gäbe es keine freien Willensakte, und wäre die Menschheit nichts anderes als eine solche hereditäre Gemeinschaft, fo wäre der Fortschritt unserer Kultur immer noch erklärlich, aber die Weltanschauung eines Mitgliedes dieses mechanischen Jnstinktstaates könnte nur der Pessimismus und der Quietismus sein; es könnte nur Nützlichkeit, keine Sittlichkeit existiren. Es hat aber zu allen Zeiten, so lange Menschen, d. h. vernünftig-sinnliche Wesen, existiren, außer den mechanischen und Jnstinktimpulsen auch solche ge¬ geben, welche als das persönliche Eigenthum aus der Totalität des fühlenden und wollenden Individuums hervorgegangen sind. Diese Impulse machen erst die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit möglich; sie konstituiren die freie Per¬ sönlichkeit. Der Mensch ist kein rein sinnliches Wesen, sonst müßte er, wie die Thiere, dem Naturgesetz instinktiv folgen; er ist aber auch kein reines Ver¬ nunftwesen, sonst könnte er durch Naturgesetze gar nicht affizirt und in Ver¬ suchung geführt werden; er ist ein vernünftig-sinnliches Wesen, er kann durch die sinnlichen Triebe verlockt werden, er kann aber auch, trotz der Lockungen, diese abweisen, sich nach Vernunftgesetzen selbst bestimmen und darnach handeln. Das ist Freiheit. Nach welchen Gesetzen reine Vernunft erscheint, wissen wir nicht; Sinnlichkeit erscheint nach den nothwendigen Naturgesetzen; die Mischung beider erscheint nach den Gesetzen der Freiheit. Nur in Freiheit, nach Selbst- Grenzboten IV. 1879. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/325>, abgerufen am 26.08.2024.