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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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und dadurch dem drohenden Bankerott vorzubeugen". Diese Denkschrift erregte
in allen Theilen des russischen Reiches, sowie im Hauptquartier ungeheures
Aufsehen. Einige Wochen später traf die Kunde von dem zweiten mißglückter
Sturme auf Plewna ein, und wieder ergossen sich die Schleusen des allge¬
meinen Unwillens über den Großfürsten, welcher dieses Unglück veranlaßt hatte.
Die unsinnigsten Gerüchte fanden Verbreitung und nährten den Pessimismus,
in welchem man förmlich schwelgte, den man als Kennzeichen patriotischer Ge¬
sinnung ansah, und der mit dem allgemeinen Verlangen nach einem System¬
wechsel, d. h. nach Einberufung einer Konstituante, in engem Zusammenhange
stand. Bei dem in dieser Zeit zu öffentlicher Verhandlung gediehenen großen
Nihilistenprozeß offenbarte sich, daß ein großer Theil des Publikums die Ideen
der Angeklagten für nicht ganz unberechtigt hielt und sich über die Verlegen¬
heit freute, die sie der Negierung bereitet hatten. Aus dem durchwühlten und
bis ins Herz korrumpirten Süden kam fortwährend Nachricht von neuen Ver¬
schwörungen und revolutionären Kundgebungen der Radikalen.

Erst als das Kriegsglück der Armee in Bulgarien wieder lächelte, ver¬
stummten der tiefe Unmuth und die kecke Lästerung, die über das Bestehende
bereits das Loos geworfen wähnten. Brausender Jubel empfing den Kaiser,
als er nach seiner Residenz an der Newa zurückkehrte. Er aber erschien als
kranker, ergrauter Mann, schwermüthig und sorgenvoll in dem Bewußtsein,
daß die hinter ihm liegenden Prüfungen mehr als ein böser Traum gewesen,
und daß zu den Zuständen vor der Kriegserklärung vom April keine Brücke
zurückführe. Die Erschütterungen der verhängnißvollen Julitage hatten nicht
nur die Organisation des Reiches, sondern auch die festen Ordnungen des
kaiserlichen Hauses getroffen. Es war ein öffentliches Geheimniß, daß der
Thronfolger gerade in den Hauptfragen anders dachte als sein Vater. Während
dieser rasche Beendigung des Krieges und einen Frieden wünschte, der die
Aufrechterhaltung der freundschaftlichen Beziehungen zu den Höfen von Berlin
und Wien und die Wiederherstellung des bisherigen Regierungssystems ermög¬
lichen sollte, wollte der Erbe der russischen Krone weder von Rücksichten auf
die deutsche Regierung noch von Beschränkung des Kriegsziels etwas wissen.
Seiner Meinung nach bedürfte es im Innern einer tiefgehenden, von der Mit¬
wirkung des Volkes getragenen Umgestaltung und in der auswärtigen Politik
eines entschlossenen Vorgehens im Sinne der Nationalpartei. Letzterem pflich¬
teten Graf Jgnatieff und zahlreiche Generale, sowie anscheinend auch Gortscha-
koff bei, während der Finanzminister zur Mäßigung rieth und Graf Schuwa-
loff immer wieder von London berichtete, daß eine direkte Gefährdung Kon¬
stantinopels durch die Russen von England mit einer Kriegserklärung beant¬
wortet werden würde. Wären die persönlichen Neigungen des Kaisers maß-


und dadurch dem drohenden Bankerott vorzubeugen". Diese Denkschrift erregte
in allen Theilen des russischen Reiches, sowie im Hauptquartier ungeheures
Aufsehen. Einige Wochen später traf die Kunde von dem zweiten mißglückter
Sturme auf Plewna ein, und wieder ergossen sich die Schleusen des allge¬
meinen Unwillens über den Großfürsten, welcher dieses Unglück veranlaßt hatte.
Die unsinnigsten Gerüchte fanden Verbreitung und nährten den Pessimismus,
in welchem man förmlich schwelgte, den man als Kennzeichen patriotischer Ge¬
sinnung ansah, und der mit dem allgemeinen Verlangen nach einem System¬
wechsel, d. h. nach Einberufung einer Konstituante, in engem Zusammenhange
stand. Bei dem in dieser Zeit zu öffentlicher Verhandlung gediehenen großen
Nihilistenprozeß offenbarte sich, daß ein großer Theil des Publikums die Ideen
der Angeklagten für nicht ganz unberechtigt hielt und sich über die Verlegen¬
heit freute, die sie der Negierung bereitet hatten. Aus dem durchwühlten und
bis ins Herz korrumpirten Süden kam fortwährend Nachricht von neuen Ver¬
schwörungen und revolutionären Kundgebungen der Radikalen.

Erst als das Kriegsglück der Armee in Bulgarien wieder lächelte, ver¬
stummten der tiefe Unmuth und die kecke Lästerung, die über das Bestehende
bereits das Loos geworfen wähnten. Brausender Jubel empfing den Kaiser,
als er nach seiner Residenz an der Newa zurückkehrte. Er aber erschien als
kranker, ergrauter Mann, schwermüthig und sorgenvoll in dem Bewußtsein,
daß die hinter ihm liegenden Prüfungen mehr als ein böser Traum gewesen,
und daß zu den Zuständen vor der Kriegserklärung vom April keine Brücke
zurückführe. Die Erschütterungen der verhängnißvollen Julitage hatten nicht
nur die Organisation des Reiches, sondern auch die festen Ordnungen des
kaiserlichen Hauses getroffen. Es war ein öffentliches Geheimniß, daß der
Thronfolger gerade in den Hauptfragen anders dachte als sein Vater. Während
dieser rasche Beendigung des Krieges und einen Frieden wünschte, der die
Aufrechterhaltung der freundschaftlichen Beziehungen zu den Höfen von Berlin
und Wien und die Wiederherstellung des bisherigen Regierungssystems ermög¬
lichen sollte, wollte der Erbe der russischen Krone weder von Rücksichten auf
die deutsche Regierung noch von Beschränkung des Kriegsziels etwas wissen.
Seiner Meinung nach bedürfte es im Innern einer tiefgehenden, von der Mit¬
wirkung des Volkes getragenen Umgestaltung und in der auswärtigen Politik
eines entschlossenen Vorgehens im Sinne der Nationalpartei. Letzterem pflich¬
teten Graf Jgnatieff und zahlreiche Generale, sowie anscheinend auch Gortscha-
koff bei, während der Finanzminister zur Mäßigung rieth und Graf Schuwa-
loff immer wieder von London berichtete, daß eine direkte Gefährdung Kon¬
stantinopels durch die Russen von England mit einer Kriegserklärung beant¬
wortet werden würde. Wären die persönlichen Neigungen des Kaisers maß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/305>, abgerufen am 23.07.2024.