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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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sicher sein würden. "Ist Konstantinopel gewonnen," so hatte Herzen gesagt,
und so glaubten jetzt seine Schüler, "so muß das eiserne von Peter I. ge¬
schmiedete Szepter zerbrechen; denn bis zu den Dardanellen kann es nicht ver¬
längert werden." Wesentlich waren diese Anschauungen von denen der natio¬
nalen oder Panslawisten nicht verschieden, sie waren nur düsterer gefärbt und
anders beleuchtet. Was bei den Herren Aksakoff und Katkoff die Erweiterung
des russischen Bewußtseins zum slawischen und die Gewinnung neuer Lebens¬
formen hieß, das bedeutete den Nihilisten einfach den Zujammenbruch aller
bestehenden Systeme, den Anfang des "Endes", auf welches die europäische
Umsturzpartei schon längst hingearbeitet hatte.

Die Stimmung des Hofes und der ihn umgebenden Kreise war bei Aus¬
bruch des Krieges eine gedrückte. Daß Gortschakoff in elfter Stunde auf die
Seite der nationalen getreten war, wollte nicht viel bedeuten; der alte Herr
konnte des Beifalls derselben nicht mehr entbehren und wollte um jeden Preis
populär sein. Jene Stimmung spiegelte sich deutlich in dem kaiserlichen
Manifest vom 24. April 1877 wieder. Es gedachte des außerrussischen Slawen¬
tums mit keiner Silbe und vermied alles, was einer Wirkung nationaler oder
religiöser Leidenschaften oder einer Anerkennung des in den letzten Monaten
zum Ausdruck gelangten Volkswillens ähnlich sehen konnte.

Die übrige russische Welt dachte sich den Krieg als eine militärische Pro¬
menade nach Konstantinopel: der russische Riese, der für die Befreiung der
südslawischen Brüder zu Felde zog, war ihr unwiderstehlich. Der heilige Geist
der Nation hatte das Kommando übernommen. Ein neues Kapitel in der
Geschichte der Menschheit hatte begonnen, und da kam es nicht sehr auf tech¬
nische Details und geschickte Generale an. Das ging ein paar Monate so fort,
bis die Katastrophe von Plewna gemeldet wurde, wo die hochgehobene Stim¬
mung Plötzlich tiefster Niedergeschlagenheit Platz machte, zumal da auch vom
asiatischen Kriegsschauplatze Nachrichten von Mißerfolgen einliefen. In den
Hauptstädten wie in der Provinz nahmen ein Pessimismus und eine Erbitte¬
rung überHand, wie man sie noch nie erlebt hatte. Die Heeresleitung durch
den in der That unfähigen Großfürsten Nikolaus erfuhr die bitterste Kritik.
Aksakoff, der Führer der Nationalpartei, sprach öffentlich von der Nothwendig¬
keit eines Systemwechsels und regte den Gedanken an, ein aus den Vertretern
der Provinziallandschaften bestehendes Zentralkomite zur Ueberwachung der
Regierung niederzusetzen. Ja er entwarf ein für den Thronfolger bestimmtes,
von zahlreichen Gesinnungsgenossen unterschriebenes Memorial, welches die so¬
fortige Zusammenberufung eine Konstituante forderte und dies mit der Noth¬
wendigkeit begründete, "fähigere Heerführer und zuverlässigere Diplomaten als
die bisherigen Berather Sr. Majestät an die Spitze der Geschäfte zu stellen


sicher sein würden. „Ist Konstantinopel gewonnen," so hatte Herzen gesagt,
und so glaubten jetzt seine Schüler, „so muß das eiserne von Peter I. ge¬
schmiedete Szepter zerbrechen; denn bis zu den Dardanellen kann es nicht ver¬
längert werden." Wesentlich waren diese Anschauungen von denen der natio¬
nalen oder Panslawisten nicht verschieden, sie waren nur düsterer gefärbt und
anders beleuchtet. Was bei den Herren Aksakoff und Katkoff die Erweiterung
des russischen Bewußtseins zum slawischen und die Gewinnung neuer Lebens¬
formen hieß, das bedeutete den Nihilisten einfach den Zujammenbruch aller
bestehenden Systeme, den Anfang des „Endes", auf welches die europäische
Umsturzpartei schon längst hingearbeitet hatte.

Die Stimmung des Hofes und der ihn umgebenden Kreise war bei Aus¬
bruch des Krieges eine gedrückte. Daß Gortschakoff in elfter Stunde auf die
Seite der nationalen getreten war, wollte nicht viel bedeuten; der alte Herr
konnte des Beifalls derselben nicht mehr entbehren und wollte um jeden Preis
populär sein. Jene Stimmung spiegelte sich deutlich in dem kaiserlichen
Manifest vom 24. April 1877 wieder. Es gedachte des außerrussischen Slawen¬
tums mit keiner Silbe und vermied alles, was einer Wirkung nationaler oder
religiöser Leidenschaften oder einer Anerkennung des in den letzten Monaten
zum Ausdruck gelangten Volkswillens ähnlich sehen konnte.

Die übrige russische Welt dachte sich den Krieg als eine militärische Pro¬
menade nach Konstantinopel: der russische Riese, der für die Befreiung der
südslawischen Brüder zu Felde zog, war ihr unwiderstehlich. Der heilige Geist
der Nation hatte das Kommando übernommen. Ein neues Kapitel in der
Geschichte der Menschheit hatte begonnen, und da kam es nicht sehr auf tech¬
nische Details und geschickte Generale an. Das ging ein paar Monate so fort,
bis die Katastrophe von Plewna gemeldet wurde, wo die hochgehobene Stim¬
mung Plötzlich tiefster Niedergeschlagenheit Platz machte, zumal da auch vom
asiatischen Kriegsschauplatze Nachrichten von Mißerfolgen einliefen. In den
Hauptstädten wie in der Provinz nahmen ein Pessimismus und eine Erbitte¬
rung überHand, wie man sie noch nie erlebt hatte. Die Heeresleitung durch
den in der That unfähigen Großfürsten Nikolaus erfuhr die bitterste Kritik.
Aksakoff, der Führer der Nationalpartei, sprach öffentlich von der Nothwendig¬
keit eines Systemwechsels und regte den Gedanken an, ein aus den Vertretern
der Provinziallandschaften bestehendes Zentralkomite zur Ueberwachung der
Regierung niederzusetzen. Ja er entwarf ein für den Thronfolger bestimmtes,
von zahlreichen Gesinnungsgenossen unterschriebenes Memorial, welches die so¬
fortige Zusammenberufung eine Konstituante forderte und dies mit der Noth¬
wendigkeit begründete, „fähigere Heerführer und zuverlässigere Diplomaten als
die bisherigen Berather Sr. Majestät an die Spitze der Geschäfte zu stellen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/304>, abgerufen am 23.07.2024.