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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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deckung, seiner Hinrichtung. Kürnberger hat an diesem Stoffe eine geniale
Sophistik der Leidenschaft verwendet und bewährt. Das Raisonnement geht
tief, aber es ist falsch: Der Held der Geschichte ist nämlich ein, wenn nicht
ganz, doch halb Verrückter. Wer den Mord eines Rivalen für natürlich
hält -- es gibt solche -- der empfindet auch keine Last des Schweigens. Das
Gewissen ist allerdings nichts Ursprüngliches, der Seele Angeborenes, sondern
es bildet sich mit und richtet sich nach der Sitte eines Volkes. Es ist vor¬
handen und wirkt bei empfindlichen Naturen und wird zum Schweigen ge¬
bracht bei rohen und willenskräftigen. Wie viele Morde sind begangen worden,
die erst nach dem Tode des Mörders bekannt wurden oder durch Zufall bei
Lebzeiten desselben, ohne daß dieser den geringsten Drang verspürt hätte, sich
selber zu verrathen. Das Gewissen mag sich auch geregt haben, es ward aber
eingeschläfert und niedergedrückt. Kurz, man ist nicht beim letzten Grunde an¬
gelangt, wenn man die Nöthigung zum Geständniß auf die Last des Schwei¬
gens zurückführt. Da ersteht die Frage: warum ist das Schweigen eine
Last? --

Seit November 1878 hatte sich ein brieflicher Verkehr zwischen uns ange¬
bahnt, wir rückten einander näher. Kürnberger hatte mir seinen Besuch für
den Mai angekündigt und dachte sogar daran, sich am Bodensee niederzulassen,
wo er die Alpen im Rücken, den See vor sich hätte. Man kann sich denken,
wie werthvoll mir seine Nähe gewesen wäre, und daß ich ihn nach Möglichkeit
in diesem Entschlüsse zu bestärken suchte.

Indessen wurde er durch Arbeiten und einen widrigen geschäftlichen
Streit zurückgehalten; Monat um Monat verging, und die Zeit rückte heran,
die ich mir für eine Reise festgesetzt hatte. Just in derselben Woche, da ich
auf dem Punkte stand, abzugehen, zeigte er mir seine Ankunft an.

Ich werde den Julinachmittag nie vergessen, als er uns -- Robert Byr
und mir -- in der Hand die Reisetasche, vom Dampfschiff entgegentrat. Er
war ganz blaß, seine Sprache matt. Was war mit ihm vorgegangen? Das
war Kürnberger nicht mehr. Seine erste Frage war, ob ein Wagen da sei,
der ihn ins Haus bringe; ich mußte gestehen, daß dafür nicht gesorgt worden
sei. So traten wir denn den Weg an. In meinem Leben habe ich nie ein
gleich langsames Tempo des Ganges und der Rede kennen gelernt. Die Worte
tropften langsam von seinen Lippen, ein Fuß stellte sich mühsam vor den andern,
wir brauchten mehr als eine halbe Stunde, um vom Hafen auf die Höhe zu
gelangen.

Ich sah, daß eine völlige Zerstörung in ihm losgebrochen, und daß das
"Rheuma" in der Herzgegend, über das er klagte, nur eine Nebenerscheinung sei.
Auf meine Frage, ob er einen Arzt konsultirt habe, erwiederte er, dies sei


deckung, seiner Hinrichtung. Kürnberger hat an diesem Stoffe eine geniale
Sophistik der Leidenschaft verwendet und bewährt. Das Raisonnement geht
tief, aber es ist falsch: Der Held der Geschichte ist nämlich ein, wenn nicht
ganz, doch halb Verrückter. Wer den Mord eines Rivalen für natürlich
hält — es gibt solche — der empfindet auch keine Last des Schweigens. Das
Gewissen ist allerdings nichts Ursprüngliches, der Seele Angeborenes, sondern
es bildet sich mit und richtet sich nach der Sitte eines Volkes. Es ist vor¬
handen und wirkt bei empfindlichen Naturen und wird zum Schweigen ge¬
bracht bei rohen und willenskräftigen. Wie viele Morde sind begangen worden,
die erst nach dem Tode des Mörders bekannt wurden oder durch Zufall bei
Lebzeiten desselben, ohne daß dieser den geringsten Drang verspürt hätte, sich
selber zu verrathen. Das Gewissen mag sich auch geregt haben, es ward aber
eingeschläfert und niedergedrückt. Kurz, man ist nicht beim letzten Grunde an¬
gelangt, wenn man die Nöthigung zum Geständniß auf die Last des Schwei¬
gens zurückführt. Da ersteht die Frage: warum ist das Schweigen eine
Last? —

Seit November 1878 hatte sich ein brieflicher Verkehr zwischen uns ange¬
bahnt, wir rückten einander näher. Kürnberger hatte mir seinen Besuch für
den Mai angekündigt und dachte sogar daran, sich am Bodensee niederzulassen,
wo er die Alpen im Rücken, den See vor sich hätte. Man kann sich denken,
wie werthvoll mir seine Nähe gewesen wäre, und daß ich ihn nach Möglichkeit
in diesem Entschlüsse zu bestärken suchte.

Indessen wurde er durch Arbeiten und einen widrigen geschäftlichen
Streit zurückgehalten; Monat um Monat verging, und die Zeit rückte heran,
die ich mir für eine Reise festgesetzt hatte. Just in derselben Woche, da ich
auf dem Punkte stand, abzugehen, zeigte er mir seine Ankunft an.

Ich werde den Julinachmittag nie vergessen, als er uns — Robert Byr
und mir — in der Hand die Reisetasche, vom Dampfschiff entgegentrat. Er
war ganz blaß, seine Sprache matt. Was war mit ihm vorgegangen? Das
war Kürnberger nicht mehr. Seine erste Frage war, ob ein Wagen da sei,
der ihn ins Haus bringe; ich mußte gestehen, daß dafür nicht gesorgt worden
sei. So traten wir denn den Weg an. In meinem Leben habe ich nie ein
gleich langsames Tempo des Ganges und der Rede kennen gelernt. Die Worte
tropften langsam von seinen Lippen, ein Fuß stellte sich mühsam vor den andern,
wir brauchten mehr als eine halbe Stunde, um vom Hafen auf die Höhe zu
gelangen.

Ich sah, daß eine völlige Zerstörung in ihm losgebrochen, und daß das
„Rheuma" in der Herzgegend, über das er klagte, nur eine Nebenerscheinung sei.
Auf meine Frage, ob er einen Arzt konsultirt habe, erwiederte er, dies sei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/287>, abgerufen am 24.07.2024.