Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.zutage von der "ländlichen Unschuld" im Gegensatz zu den Ausschweifungen Während wir aber in den Städten einer hohen geistigen und politischen So sind wir denn wieder bei dem Gedanken angelangt, von dem wir aus¬ zutage von der „ländlichen Unschuld" im Gegensatz zu den Ausschweifungen Während wir aber in den Städten einer hohen geistigen und politischen So sind wir denn wieder bei dem Gedanken angelangt, von dem wir aus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0279" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143334"/> <p xml:id="ID_812" prev="#ID_811"> zutage von der „ländlichen Unschuld" im Gegensatz zu den Ausschweifungen<lb/> des städtischen Lebens spricht, so hatte auch im Mittelalter der zunehmende<lb/> Wohlstand des Bürgerthums Verschwendung und Unsittlichkeit aller Art im<lb/> Gefolge. Bei allen größeren Festlichkeiten wurden ungeheure Quantitäten gei¬<lb/> stiger Getränke konsumirt. Man staunt, wenn man vernimmt, daß in Zürich<lb/> bei dem althergebrachten Frühlingsfest auf den Trinkstuben der Zünfte 16 Maß<lb/> Wein auf den Mann gerechnet wurden! Einen traurigen Einblick in die Sitten¬<lb/> zustande des üppigen Bürgerthums gewähren auch die mannigfachen Nachrichten,<lb/> die über die sexuellen Ausschweifungen jener Zeit, deren sich auch Verheirathete<lb/> schuldig machten, überliefert sind. Schon im 15. Jahrhundert gab es selbst<lb/> in kleineren Städten „Franenhäuser", über die mit echtdeutscher Gründlichkeit<lb/> Verordnungen der Behörden erlassen wurden.</p><lb/> <p xml:id="ID_813"> Während wir aber in den Städten einer hohen geistigen und politischen<lb/> Kultur schon im 13., noch mehr im 14. und 15. Jahrhundert begegnen, wäh¬<lb/> rend hier neue politische Gedanken, z. B. der föderative, sich Bahn brachen, die<lb/> bis in die neueste Zeit von Bedeutung gewesen sind, finden wir in den Bauern¬<lb/> schaften jener Zeiten nichts, was sich hiermit vergleichen ließe. Zwar war auch<lb/> die Landwirthschaft von der fortschreitenden Kultur nicht unberührt geblieben,<lb/> aber die persönlichen Verhältnisse der unfreien Bauern hatten sich nicht wesent¬<lb/> lich geändert. Den Gegensatz der städtischen und ländlichen Kultur erkennt<lb/> man recht deutlich in der Art und Weise, wie die Reformation in Deutschland<lb/> Eingang sand. Während in den Städten, namentlich den Universitätsstädten,<lb/> die gewaltige durch Luther angeregte geistige Kernfrage sofort mit Eifer in<lb/> die Hand genommen und weiter gebildet wurde, ist der große Reformator von<lb/> den Bauern gründlich mißverstanden worden: die völlig unreife Bewegung der<lb/> Bauernkriege legt ein deutliches Zeugniß dafür ab, daß der Bauer der dama¬<lb/> ligen Zeit noch vollkommen unfähig war, den Sinn einer großen geistigen<lb/> Bewegung zu erfassen. Freilich blieb das Landleben dann auch auf der andern<lb/> Seite von den Verlockungen und sinnlichen Verirrungen, denen die bürgerliche<lb/> Gesellschaft anheimfiel, frei. Für die geringere geistige Kultur aber können<lb/> wir den Bauer allein nicht verantwortlich machen; ist es doch erst unserem<lb/> Jahrhundert vorbehalten geblieben, ihm wenigstens seine unbeschränkte persön¬<lb/> liche Freiheit wiederzugeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_814" next="#ID_815"> So sind wir denn wieder bei dem Gedanken angelangt, von dem wir aus¬<lb/> gingen. Der soziale Gegensatz zwischen ländlicher und städtischer Kultur besteht<lb/> trotz der segensreichen politischen Gleichstellung beider Elemente der Bevölke¬<lb/> rung noch heute. Möglich, daß die fortschreitende Kultur der Zukunft ihn<lb/> mehr und mehr verwischen wird — völlig verschwinden wird er kaum. Wir<lb/> zweifeln auch, ob das für die gesunde Entwickelung unseres Volkslebens</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0279]
zutage von der „ländlichen Unschuld" im Gegensatz zu den Ausschweifungen
des städtischen Lebens spricht, so hatte auch im Mittelalter der zunehmende
Wohlstand des Bürgerthums Verschwendung und Unsittlichkeit aller Art im
Gefolge. Bei allen größeren Festlichkeiten wurden ungeheure Quantitäten gei¬
stiger Getränke konsumirt. Man staunt, wenn man vernimmt, daß in Zürich
bei dem althergebrachten Frühlingsfest auf den Trinkstuben der Zünfte 16 Maß
Wein auf den Mann gerechnet wurden! Einen traurigen Einblick in die Sitten¬
zustande des üppigen Bürgerthums gewähren auch die mannigfachen Nachrichten,
die über die sexuellen Ausschweifungen jener Zeit, deren sich auch Verheirathete
schuldig machten, überliefert sind. Schon im 15. Jahrhundert gab es selbst
in kleineren Städten „Franenhäuser", über die mit echtdeutscher Gründlichkeit
Verordnungen der Behörden erlassen wurden.
Während wir aber in den Städten einer hohen geistigen und politischen
Kultur schon im 13., noch mehr im 14. und 15. Jahrhundert begegnen, wäh¬
rend hier neue politische Gedanken, z. B. der föderative, sich Bahn brachen, die
bis in die neueste Zeit von Bedeutung gewesen sind, finden wir in den Bauern¬
schaften jener Zeiten nichts, was sich hiermit vergleichen ließe. Zwar war auch
die Landwirthschaft von der fortschreitenden Kultur nicht unberührt geblieben,
aber die persönlichen Verhältnisse der unfreien Bauern hatten sich nicht wesent¬
lich geändert. Den Gegensatz der städtischen und ländlichen Kultur erkennt
man recht deutlich in der Art und Weise, wie die Reformation in Deutschland
Eingang sand. Während in den Städten, namentlich den Universitätsstädten,
die gewaltige durch Luther angeregte geistige Kernfrage sofort mit Eifer in
die Hand genommen und weiter gebildet wurde, ist der große Reformator von
den Bauern gründlich mißverstanden worden: die völlig unreife Bewegung der
Bauernkriege legt ein deutliches Zeugniß dafür ab, daß der Bauer der dama¬
ligen Zeit noch vollkommen unfähig war, den Sinn einer großen geistigen
Bewegung zu erfassen. Freilich blieb das Landleben dann auch auf der andern
Seite von den Verlockungen und sinnlichen Verirrungen, denen die bürgerliche
Gesellschaft anheimfiel, frei. Für die geringere geistige Kultur aber können
wir den Bauer allein nicht verantwortlich machen; ist es doch erst unserem
Jahrhundert vorbehalten geblieben, ihm wenigstens seine unbeschränkte persön¬
liche Freiheit wiederzugeben.
So sind wir denn wieder bei dem Gedanken angelangt, von dem wir aus¬
gingen. Der soziale Gegensatz zwischen ländlicher und städtischer Kultur besteht
trotz der segensreichen politischen Gleichstellung beider Elemente der Bevölke¬
rung noch heute. Möglich, daß die fortschreitende Kultur der Zukunft ihn
mehr und mehr verwischen wird — völlig verschwinden wird er kaum. Wir
zweifeln auch, ob das für die gesunde Entwickelung unseres Volkslebens
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