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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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völlig auszureichen." Die christliche Mythologie als Basis der Denkmüler-
erklärung steht gegenwärtig noch auf demselben Standpunkte, auf dem die
antike Mythologie etwa vor achtzig Jahren stand, zu Schillers Zeit, als man sich
in zweifelhaften Fällen noch aus K. PH. Moritz' Mythologischen Wörterbuchs
Raths erholte.

Der Grund für diese Erscheinung ist nicht schwer anzugeben. Nicht daß
die ikonographischen Studien in der christlichen Kunst besonders abschreckender
Schwierigkeit wegen gemieden würden -- wenn die moderne Kunstgeschichte auf
der einen Seite in die archivalische Forschung, auf der andern in das Studium
von Handzeichnungen, Skizzen und Entwürfen sich vertieft, so bewegt sie sich
auf einem gewiß nicht minder schwierigen Terrain --, sondern der Grund
liegt einfach in dem verschiedenen Entwickelungsgange, den die antike und die
moderne Kunstwissenschaft genommen haben. Längst hatte es eine Archäologie
gegeben, ehe es eine Kunstwissenschaft gab. Die Denkmäler der alten Kunst
hatten längst neben den Werken der alten Schriftsteller als Quellen für die
Erkenntniß des antiken Lebens und Glaubens gegolten, hatten längst um des
Gegenstandes der Darstellung willen interessirt, ehe sie anfingen, als Kunst¬
werke zu interessiren und betrachtet zu werden. Noch I. F. Christ in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts, den man so ost als Vorläufer Winckelmanns
bezeichnet hat, steht den Werken der alten Kunst gegenüber auf wesentlich
"antiquarischen" Standpunkte. Erst durch Winckelmanns bahnbrechende Ar¬
beiten ist die Kunstwissenschaft von der Alterthumswissenschaft als selbständige
Disziplin abgesenkt worden, wie die junge Zwiebel von der alten. Die
"antiquarische" Auffassung hat aber neben der kunsthistorischen Forschung und
der aesthetischen und stilistischen Betrachtung alter Kunstwerke nie ihre Wichtig¬
keit verloren, und noch heute interessirt den Herausgeber eines antiken Vasen¬
bildes oder Sarkophagreliefs in erster Linie der Gegenstand der Darstellung.
Als dagegen die moderne Kunstwissenschaft der älteren Schwester zuerst an die
Seite trat, folgte sie unwillkürlich zunächst dem historischen Zuge, sie erforschte
vor allem das Leben der Künstler und die Geschichte ihrer Werke. Das
Interesse für die ikonographischen Aufgaben der Kunstbetrachtung, für die
Gegenstände der Darstellung und die Quellen, aus deuen die Kunst des Mittel¬
alters und der Renaissance ihre Stoffe geschöpft, blieb zunächst im Hintergrunde
stehen und hat auch bis auf den heutigen Tag noch nicht recht in Fluß
kommen wollen.

Soviel ist ja sicher und allbekannt, daß als die Hauptquellen der mittel¬
alterlichen Kunstdarstellungen auf der einen Seite die Bibel, auf der andern
die Heiligenlegende zu gelten haben. Aber wie unbestimmt und verschwommen
sind die Vorstellungen, die man sich bis jetzt von dem Verhältniß der Mittel-


völlig auszureichen." Die christliche Mythologie als Basis der Denkmüler-
erklärung steht gegenwärtig noch auf demselben Standpunkte, auf dem die
antike Mythologie etwa vor achtzig Jahren stand, zu Schillers Zeit, als man sich
in zweifelhaften Fällen noch aus K. PH. Moritz' Mythologischen Wörterbuchs
Raths erholte.

Der Grund für diese Erscheinung ist nicht schwer anzugeben. Nicht daß
die ikonographischen Studien in der christlichen Kunst besonders abschreckender
Schwierigkeit wegen gemieden würden — wenn die moderne Kunstgeschichte auf
der einen Seite in die archivalische Forschung, auf der andern in das Studium
von Handzeichnungen, Skizzen und Entwürfen sich vertieft, so bewegt sie sich
auf einem gewiß nicht minder schwierigen Terrain —, sondern der Grund
liegt einfach in dem verschiedenen Entwickelungsgange, den die antike und die
moderne Kunstwissenschaft genommen haben. Längst hatte es eine Archäologie
gegeben, ehe es eine Kunstwissenschaft gab. Die Denkmäler der alten Kunst
hatten längst neben den Werken der alten Schriftsteller als Quellen für die
Erkenntniß des antiken Lebens und Glaubens gegolten, hatten längst um des
Gegenstandes der Darstellung willen interessirt, ehe sie anfingen, als Kunst¬
werke zu interessiren und betrachtet zu werden. Noch I. F. Christ in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts, den man so ost als Vorläufer Winckelmanns
bezeichnet hat, steht den Werken der alten Kunst gegenüber auf wesentlich
„antiquarischen" Standpunkte. Erst durch Winckelmanns bahnbrechende Ar¬
beiten ist die Kunstwissenschaft von der Alterthumswissenschaft als selbständige
Disziplin abgesenkt worden, wie die junge Zwiebel von der alten. Die
„antiquarische" Auffassung hat aber neben der kunsthistorischen Forschung und
der aesthetischen und stilistischen Betrachtung alter Kunstwerke nie ihre Wichtig¬
keit verloren, und noch heute interessirt den Herausgeber eines antiken Vasen¬
bildes oder Sarkophagreliefs in erster Linie der Gegenstand der Darstellung.
Als dagegen die moderne Kunstwissenschaft der älteren Schwester zuerst an die
Seite trat, folgte sie unwillkürlich zunächst dem historischen Zuge, sie erforschte
vor allem das Leben der Künstler und die Geschichte ihrer Werke. Das
Interesse für die ikonographischen Aufgaben der Kunstbetrachtung, für die
Gegenstände der Darstellung und die Quellen, aus deuen die Kunst des Mittel¬
alters und der Renaissance ihre Stoffe geschöpft, blieb zunächst im Hintergrunde
stehen und hat auch bis auf den heutigen Tag noch nicht recht in Fluß
kommen wollen.

Soviel ist ja sicher und allbekannt, daß als die Hauptquellen der mittel¬
alterlichen Kunstdarstellungen auf der einen Seite die Bibel, auf der andern
die Heiligenlegende zu gelten haben. Aber wie unbestimmt und verschwommen
sind die Vorstellungen, die man sich bis jetzt von dem Verhältniß der Mittel-


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[0224] völlig auszureichen." Die christliche Mythologie als Basis der Denkmüler- erklärung steht gegenwärtig noch auf demselben Standpunkte, auf dem die antike Mythologie etwa vor achtzig Jahren stand, zu Schillers Zeit, als man sich in zweifelhaften Fällen noch aus K. PH. Moritz' Mythologischen Wörterbuchs Raths erholte. Der Grund für diese Erscheinung ist nicht schwer anzugeben. Nicht daß die ikonographischen Studien in der christlichen Kunst besonders abschreckender Schwierigkeit wegen gemieden würden — wenn die moderne Kunstgeschichte auf der einen Seite in die archivalische Forschung, auf der andern in das Studium von Handzeichnungen, Skizzen und Entwürfen sich vertieft, so bewegt sie sich auf einem gewiß nicht minder schwierigen Terrain —, sondern der Grund liegt einfach in dem verschiedenen Entwickelungsgange, den die antike und die moderne Kunstwissenschaft genommen haben. Längst hatte es eine Archäologie gegeben, ehe es eine Kunstwissenschaft gab. Die Denkmäler der alten Kunst hatten längst neben den Werken der alten Schriftsteller als Quellen für die Erkenntniß des antiken Lebens und Glaubens gegolten, hatten längst um des Gegenstandes der Darstellung willen interessirt, ehe sie anfingen, als Kunst¬ werke zu interessiren und betrachtet zu werden. Noch I. F. Christ in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, den man so ost als Vorläufer Winckelmanns bezeichnet hat, steht den Werken der alten Kunst gegenüber auf wesentlich „antiquarischen" Standpunkte. Erst durch Winckelmanns bahnbrechende Ar¬ beiten ist die Kunstwissenschaft von der Alterthumswissenschaft als selbständige Disziplin abgesenkt worden, wie die junge Zwiebel von der alten. Die „antiquarische" Auffassung hat aber neben der kunsthistorischen Forschung und der aesthetischen und stilistischen Betrachtung alter Kunstwerke nie ihre Wichtig¬ keit verloren, und noch heute interessirt den Herausgeber eines antiken Vasen¬ bildes oder Sarkophagreliefs in erster Linie der Gegenstand der Darstellung. Als dagegen die moderne Kunstwissenschaft der älteren Schwester zuerst an die Seite trat, folgte sie unwillkürlich zunächst dem historischen Zuge, sie erforschte vor allem das Leben der Künstler und die Geschichte ihrer Werke. Das Interesse für die ikonographischen Aufgaben der Kunstbetrachtung, für die Gegenstände der Darstellung und die Quellen, aus deuen die Kunst des Mittel¬ alters und der Renaissance ihre Stoffe geschöpft, blieb zunächst im Hintergrunde stehen und hat auch bis auf den heutigen Tag noch nicht recht in Fluß kommen wollen. Soviel ist ja sicher und allbekannt, daß als die Hauptquellen der mittel¬ alterlichen Kunstdarstellungen auf der einen Seite die Bibel, auf der andern die Heiligenlegende zu gelten haben. Aber wie unbestimmt und verschwommen sind die Vorstellungen, die man sich bis jetzt von dem Verhältniß der Mittel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/224>, abgerufen am 23.07.2024.