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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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nachlässige, nie eine auf Kosten der übrigen bevorzugt worden. Von historischen
und Stilfragen wird dies jeder ohne weiteres zugestehen. Aber es gilt auch
von technischen. Wenn auch z. B. die Frage nach der Technik der pompejanischen
Wandmalereien erst in jüngster Zeit durch die abschließenden Untersuchungen
Donners endgiltig beantwortet worden ist, beschäftigt hat sie die Wissenschaft
doch von Anfang an so gut wie die Fragen über die Enkaustik, die Thon¬
fabrikation, die Vasenmalerei, den Bronzeguß, die Goldelfeubeintechnik der Alten
und manches Verwandte. Die Ikonographie vollends -- der Ausdruck ist in
der Altertumswissenschaft freilich nicht rezipirt, aber wir wollen ihn einmal
aus der neueren Kunstwissenschaft herübernehmen -- ist von der Archäologie
von jeher aufs eifrigste angebaut worden. Die Frage: Welche Götter- oder
Heroengestalt, welche Szene des Mythus oder der Sage stellt dies oder jenes
Kunstwerk dar? korrespondirend mit der andern Frage: Wie ist die oder jene
Gestalt oder Szene des Mythus oder der Sage in der alten Kunst dargestellt
worden?, also die gegenständliche Interpretation des einzelnen Kunstwerkes, und
ihr entsprechend die systematische Behandlung der Kunstmythologie, die ja neun
Zehntel der antiken Ikonographie ausmacht, sie sind von Anfang an mit
größtem Eifer behandelt worden, und gegenwärtig hat wohl kein Gebiet der
archäologischen Wissenschaft eine so großartige systematische Darstellung auf¬
zuweisen, wie sie Johannes Overbeck in seiner umfassend geplanten "Griechischen
Kunstmythologie" begonnen und schon um ein Bedeutendes gefördert hat.

Ganz anders in der neueren Kunstwissenschaft. So gewaltige Fortschritte
diese auch in der letzteren Zeit in der historischen Forschung gemacht hat, so
reichliche Veranlassung sie gehabt hat, namentlich in Folge der auf die Hebung
des Kunstgewerbes gerichteten Bestrebungen, sich um die ja zum guten Theil
verloren gegangene Technik vergangener Kunstperioden zu kümmern, so dürftig
ist es um die Ikonographie der christlichen Kunst, die "Ikonographie Gottes
und der Heiligen", um diesen Titel des bekannten Buches von I. Wessely hier
zu brauchen, um die christliche Kunstmythologie bestellt; wissenschaftlichen An¬
sprüchen gegenüber steht sie thatsächlich noch in ihren allerersten Anfängen.
Einem Werke wie Overbecks "Griechischer Kunstmythologie" hat die neuere
Kunstwissenschaft nichts an die Seite zu setzen. Mit Recht klagt Atom Schultz,
daß die Kunstgeschichte des Mittelalters bei allen Erfolgen, die sie auszuweisen
habe, doch in einer Richtung bis jetzt wenig oder gar keinen Fortschritt gemacht
habe: in der wissenschaftlichen Interpretation der Denkmäler. "Noch immer
glaubt man mit einiger Kenntniß der Bibel allenfalls der Aufgabe gewachsen
zu sein, die Bilder und Sculpturen des Mittelalters zu erklären; und die
Attribute der gewöhnlich dargestellten Heiligen, in Compendien oder Tabellen
gesammelt, scheinen für den Handgebrauch, den betreffenden Heiligen zu erkennen,


nachlässige, nie eine auf Kosten der übrigen bevorzugt worden. Von historischen
und Stilfragen wird dies jeder ohne weiteres zugestehen. Aber es gilt auch
von technischen. Wenn auch z. B. die Frage nach der Technik der pompejanischen
Wandmalereien erst in jüngster Zeit durch die abschließenden Untersuchungen
Donners endgiltig beantwortet worden ist, beschäftigt hat sie die Wissenschaft
doch von Anfang an so gut wie die Fragen über die Enkaustik, die Thon¬
fabrikation, die Vasenmalerei, den Bronzeguß, die Goldelfeubeintechnik der Alten
und manches Verwandte. Die Ikonographie vollends — der Ausdruck ist in
der Altertumswissenschaft freilich nicht rezipirt, aber wir wollen ihn einmal
aus der neueren Kunstwissenschaft herübernehmen — ist von der Archäologie
von jeher aufs eifrigste angebaut worden. Die Frage: Welche Götter- oder
Heroengestalt, welche Szene des Mythus oder der Sage stellt dies oder jenes
Kunstwerk dar? korrespondirend mit der andern Frage: Wie ist die oder jene
Gestalt oder Szene des Mythus oder der Sage in der alten Kunst dargestellt
worden?, also die gegenständliche Interpretation des einzelnen Kunstwerkes, und
ihr entsprechend die systematische Behandlung der Kunstmythologie, die ja neun
Zehntel der antiken Ikonographie ausmacht, sie sind von Anfang an mit
größtem Eifer behandelt worden, und gegenwärtig hat wohl kein Gebiet der
archäologischen Wissenschaft eine so großartige systematische Darstellung auf¬
zuweisen, wie sie Johannes Overbeck in seiner umfassend geplanten „Griechischen
Kunstmythologie" begonnen und schon um ein Bedeutendes gefördert hat.

Ganz anders in der neueren Kunstwissenschaft. So gewaltige Fortschritte
diese auch in der letzteren Zeit in der historischen Forschung gemacht hat, so
reichliche Veranlassung sie gehabt hat, namentlich in Folge der auf die Hebung
des Kunstgewerbes gerichteten Bestrebungen, sich um die ja zum guten Theil
verloren gegangene Technik vergangener Kunstperioden zu kümmern, so dürftig
ist es um die Ikonographie der christlichen Kunst, die „Ikonographie Gottes
und der Heiligen", um diesen Titel des bekannten Buches von I. Wessely hier
zu brauchen, um die christliche Kunstmythologie bestellt; wissenschaftlichen An¬
sprüchen gegenüber steht sie thatsächlich noch in ihren allerersten Anfängen.
Einem Werke wie Overbecks „Griechischer Kunstmythologie" hat die neuere
Kunstwissenschaft nichts an die Seite zu setzen. Mit Recht klagt Atom Schultz,
daß die Kunstgeschichte des Mittelalters bei allen Erfolgen, die sie auszuweisen
habe, doch in einer Richtung bis jetzt wenig oder gar keinen Fortschritt gemacht
habe: in der wissenschaftlichen Interpretation der Denkmäler. „Noch immer
glaubt man mit einiger Kenntniß der Bibel allenfalls der Aufgabe gewachsen
zu sein, die Bilder und Sculpturen des Mittelalters zu erklären; und die
Attribute der gewöhnlich dargestellten Heiligen, in Compendien oder Tabellen
gesammelt, scheinen für den Handgebrauch, den betreffenden Heiligen zu erkennen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/223>, abgerufen am 23.07.2024.