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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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eigenthümlich ist übrigens die komplizirte und pedantische Einrichtung der
Probelektionen, welche ein neu antretender Lehrer in den alten Sprachen ab¬
zuhalten hatte, und welche noch 1770 dem Urtheile der obersten zwölf Primaner
unterstellt wurden. In einer solchen Gelehrtenrepublik, bei einer solchen den
moquanten Sinn der Jugend geradezu herausfordernden Sitte mußte es dem
Lehrer ziemlich schwer werden, sich die nöthige Autorität zu erringen. Dem¬
gegenüber gaben die Lehrer die Fehler, welche die Schüler in ihren Examen¬
arbeiten gemacht hatten, noch bis zum Jahre 1860 in dem sogenannten "Bock¬
markt" dem Gelächter des versammelten Coceus preis.

Neben den fremden Sprachen erlangte seit dem vorigen Jahrhundert auch
die bisher als Aschenbrödel behandelte Muttersprache eine sorgfältigere Berück¬
sichtigung. Der schon oben rühmlich erwähnte Rektor Martius war es, der sie
zu einer solchen empfahl. Aber wie eine Ironie klingt es, daß er seine Empfeh¬
lung selbst noch in dem abscheulichen Mischdialekt jener Zeit ausdrückt. "Zudem
wäre billig nachzudenken," erklärt er, "ob nicht zu Ehre der teutschen Nation
und zum Nutzen der KoMM^no die teutsche Sprache ein bischen mehr in
voQ8la6rg.t1on gezogen und sxoollrt werden möchte." Was er damit schüchtern
anregte, ist durch die 1773 eingeführte Schulordnung von I. A. Ernesti, auf
deren Grundsätzen ja überhaupt der ganze moderne Gymnasialunterricht beruht,
mit völliger Entschiedenheit verwirklicht worden: seitdem erscheint die deutsche
Sprache "als ein den gelehrten Sprachen ebenbürtig geachteter Unterrichts¬
gegenstand".

Um dieselbe Zeit kamen auch von den bis dahin sast vernachlässigten
Realien die Geschichte und die Geographie auf den Stundenplan; ebenso die
Mathematik. Letztere wurde trotz starker Bedenken der philologischen Lehrer,
welche eine Einschränkung ihrer eigenen Fächer von dem neu hinzutretender
fürchteten, 1721 dem Inspektor der Porzellanmanufaktur, Reinbrück, gegen eine
mäßige Vergütung übertragen. Die weiteren Folgen dieses ersten Schrittes
waren natürlich, daß später (1729) ein besonderer Mathematikus in das Kolle¬
gium eintrat, zu dessen Funktionen anch der physikalische Unterricht gehörte.

Der französische Unterricht endlich, der gleichfalls zu Anfang des 18. Jahr¬
hunderts aufkam, blieb bis 1773 fakultativ und lag anfangs in den Händen
des Tanzlehrers, wie er denn mit dem Tanzunterricht auch unter denselben
Gesichtspunkt einer Vorbildung für den Salon und unter dieselbe Werth¬
schätzung fiel.

Daß neben dem gemeinsamen Unterricht die Fürstenschulen ihren Zög¬
lingen auch in geregelter Weise Gelegenheit zu einem ihrer Individualität
entsprechenden Privatstudium bieten, ist allbekannt. Seit 1834 dienen diesem
Zwecke die sogenannten Studirtage, welche aller 14 Tage gehalten werden.


eigenthümlich ist übrigens die komplizirte und pedantische Einrichtung der
Probelektionen, welche ein neu antretender Lehrer in den alten Sprachen ab¬
zuhalten hatte, und welche noch 1770 dem Urtheile der obersten zwölf Primaner
unterstellt wurden. In einer solchen Gelehrtenrepublik, bei einer solchen den
moquanten Sinn der Jugend geradezu herausfordernden Sitte mußte es dem
Lehrer ziemlich schwer werden, sich die nöthige Autorität zu erringen. Dem¬
gegenüber gaben die Lehrer die Fehler, welche die Schüler in ihren Examen¬
arbeiten gemacht hatten, noch bis zum Jahre 1860 in dem sogenannten „Bock¬
markt" dem Gelächter des versammelten Coceus preis.

Neben den fremden Sprachen erlangte seit dem vorigen Jahrhundert auch
die bisher als Aschenbrödel behandelte Muttersprache eine sorgfältigere Berück¬
sichtigung. Der schon oben rühmlich erwähnte Rektor Martius war es, der sie
zu einer solchen empfahl. Aber wie eine Ironie klingt es, daß er seine Empfeh¬
lung selbst noch in dem abscheulichen Mischdialekt jener Zeit ausdrückt. „Zudem
wäre billig nachzudenken," erklärt er, „ob nicht zu Ehre der teutschen Nation
und zum Nutzen der KoMM^no die teutsche Sprache ein bischen mehr in
voQ8la6rg.t1on gezogen und sxoollrt werden möchte." Was er damit schüchtern
anregte, ist durch die 1773 eingeführte Schulordnung von I. A. Ernesti, auf
deren Grundsätzen ja überhaupt der ganze moderne Gymnasialunterricht beruht,
mit völliger Entschiedenheit verwirklicht worden: seitdem erscheint die deutsche
Sprache „als ein den gelehrten Sprachen ebenbürtig geachteter Unterrichts¬
gegenstand".

Um dieselbe Zeit kamen auch von den bis dahin sast vernachlässigten
Realien die Geschichte und die Geographie auf den Stundenplan; ebenso die
Mathematik. Letztere wurde trotz starker Bedenken der philologischen Lehrer,
welche eine Einschränkung ihrer eigenen Fächer von dem neu hinzutretender
fürchteten, 1721 dem Inspektor der Porzellanmanufaktur, Reinbrück, gegen eine
mäßige Vergütung übertragen. Die weiteren Folgen dieses ersten Schrittes
waren natürlich, daß später (1729) ein besonderer Mathematikus in das Kolle¬
gium eintrat, zu dessen Funktionen anch der physikalische Unterricht gehörte.

Der französische Unterricht endlich, der gleichfalls zu Anfang des 18. Jahr¬
hunderts aufkam, blieb bis 1773 fakultativ und lag anfangs in den Händen
des Tanzlehrers, wie er denn mit dem Tanzunterricht auch unter denselben
Gesichtspunkt einer Vorbildung für den Salon und unter dieselbe Werth¬
schätzung fiel.

Daß neben dem gemeinsamen Unterricht die Fürstenschulen ihren Zög¬
lingen auch in geregelter Weise Gelegenheit zu einem ihrer Individualität
entsprechenden Privatstudium bieten, ist allbekannt. Seit 1834 dienen diesem
Zwecke die sogenannten Studirtage, welche aller 14 Tage gehalten werden.


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[0196] eigenthümlich ist übrigens die komplizirte und pedantische Einrichtung der Probelektionen, welche ein neu antretender Lehrer in den alten Sprachen ab¬ zuhalten hatte, und welche noch 1770 dem Urtheile der obersten zwölf Primaner unterstellt wurden. In einer solchen Gelehrtenrepublik, bei einer solchen den moquanten Sinn der Jugend geradezu herausfordernden Sitte mußte es dem Lehrer ziemlich schwer werden, sich die nöthige Autorität zu erringen. Dem¬ gegenüber gaben die Lehrer die Fehler, welche die Schüler in ihren Examen¬ arbeiten gemacht hatten, noch bis zum Jahre 1860 in dem sogenannten „Bock¬ markt" dem Gelächter des versammelten Coceus preis. Neben den fremden Sprachen erlangte seit dem vorigen Jahrhundert auch die bisher als Aschenbrödel behandelte Muttersprache eine sorgfältigere Berück¬ sichtigung. Der schon oben rühmlich erwähnte Rektor Martius war es, der sie zu einer solchen empfahl. Aber wie eine Ironie klingt es, daß er seine Empfeh¬ lung selbst noch in dem abscheulichen Mischdialekt jener Zeit ausdrückt. „Zudem wäre billig nachzudenken," erklärt er, „ob nicht zu Ehre der teutschen Nation und zum Nutzen der KoMM^no die teutsche Sprache ein bischen mehr in voQ8la6rg.t1on gezogen und sxoollrt werden möchte." Was er damit schüchtern anregte, ist durch die 1773 eingeführte Schulordnung von I. A. Ernesti, auf deren Grundsätzen ja überhaupt der ganze moderne Gymnasialunterricht beruht, mit völliger Entschiedenheit verwirklicht worden: seitdem erscheint die deutsche Sprache „als ein den gelehrten Sprachen ebenbürtig geachteter Unterrichts¬ gegenstand". Um dieselbe Zeit kamen auch von den bis dahin sast vernachlässigten Realien die Geschichte und die Geographie auf den Stundenplan; ebenso die Mathematik. Letztere wurde trotz starker Bedenken der philologischen Lehrer, welche eine Einschränkung ihrer eigenen Fächer von dem neu hinzutretender fürchteten, 1721 dem Inspektor der Porzellanmanufaktur, Reinbrück, gegen eine mäßige Vergütung übertragen. Die weiteren Folgen dieses ersten Schrittes waren natürlich, daß später (1729) ein besonderer Mathematikus in das Kolle¬ gium eintrat, zu dessen Funktionen anch der physikalische Unterricht gehörte. Der französische Unterricht endlich, der gleichfalls zu Anfang des 18. Jahr¬ hunderts aufkam, blieb bis 1773 fakultativ und lag anfangs in den Händen des Tanzlehrers, wie er denn mit dem Tanzunterricht auch unter denselben Gesichtspunkt einer Vorbildung für den Salon und unter dieselbe Werth¬ schätzung fiel. Daß neben dem gemeinsamen Unterricht die Fürstenschulen ihren Zög¬ lingen auch in geregelter Weise Gelegenheit zu einem ihrer Individualität entsprechenden Privatstudium bieten, ist allbekannt. Seit 1834 dienen diesem Zwecke die sogenannten Studirtage, welche aller 14 Tage gehalten werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/196>, abgerufen am 01.07.2024.