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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Mörike meiner Ansicht nach das Feld seiner eigensten Begabung, mehr
noch als selbst in der eigentlichen Lyrik. Schon die Stoffe -- wie ganz
spezifisch Mörikisch! Diese "Sommerwesten", diese musikalische, erinnerungs¬
reiche Gartenthür, diese Schnakenjagd! Und vor allem der "Thurmhahn"!
Und nicht minder dem Dichter eigen ist die Form, die nicht sowohl starke
Effekte als feinste Nüancirung begünstigt. Im gewöhnlichen Gesprächstone, als
ob von Poesie gar nicht die Rede sei, hebt er an, aber unmerklich schmiegt sich
die Sprache jeder Stimmung an, weiß sie zu jeder sich zu erheben. -Das ist,
so verschieden sie sonst sind, den Knittelversen des "Thurmhahns" und den
antiken Meeren gemeinsam. Der Dichter braucht keine zu hoch gespannte, keine
überflüssige Empfindung aufzuregen, weil er sicher ist, die natürliche, nothwen¬
dige in jedem Augenblicke zu wecken. Welche Wirkung thut an seiner Stelle
das eine Wort "Sternenlüfteschwall" im Thurmhahn! So genau gehören hier
Form und Inhalt zusammen, daß man nicht ohne Bangen daran denken kann,
was aus diesen Stoffen, z. B. den "Sommerwesten", unter andern Händen ge¬
worden wäre, aus Stoffen, die nur eine vollkommen wahre Beleuchtung ver¬
tragen und doch eine so warme brauchen, um interessant zu sein. Es ist häufig
die Erinnerung, die ihnen dieses warme Licht gibt, oder der Gedanke, daß sie
bald der Erinnerung angehören werden. Aber wie rein erklingt dieser Ton
der Wehmuth, und wie zart! Milde Resignation ist ihm gesellt, und er ver¬
trägt sich mit einem kerngesunden Humor. Ja gerade in dem "reizenden Jn-
einanderspiel von Ironie und Wehmuth" liegt zuweilen der zarteste Reiz, wie
dies Strauß an dem "Besuch in der Carthause" feinsinnig entwickelt hat. Auch
das tragische Motiv des Todes in der Jugendblüthe, das jetzt bedeutsam hervor¬
tritt, rückt der Dichter in ein solches Widerspiel von Licht und Schatten, kontrastirt
den Sonnenglanz des Lebens -- zart, aber wunderbar ergreifend -- nicht mit
dem Tode, sondern mit der Todesahnung, wie in dem Lied "Denk' es, o Seele",
so in dem Gedicht "Erinna an Sappho". Wie sich jenes an den Ton böh¬
mischer Volkslieder, dieses an die Reste griechischer Lyrik glücklich anlehnt, so
trifft er, wo ihn ein äußerer Anlaß noch einmal zu Ballade und Volkslied
zurückführt"), mit Sicherheit jedesmal den angemessenen Ton, in der "Ritterlichen
Werbung" den kurzangebundenen des englischen Vorbildes^), in "Jedem das
Seine" den Ton der raschen Tanzweise und das slavische Kolorit. Eines Sich-
eingewöhnens bedarf es bei den späteren Gedichten, so eigenartig sie sind, viel
weniger als bei den früheren; aber wenn Klaiber sagt, daß sie weit allgemeiner
bekannt seien, so stehen meine Erfahrungen damit im Widerspruch. Nicht




*) Vgl. Roller: Ed. Mörike, S, 23.
'
**) Vgl. IKe Ls^s Oxers,, S> book? ok via rkz^mes ritt meo äreZSW dz? ^VÄtsr Ohne.
London K New-York (1876) S- 48.

Mörike meiner Ansicht nach das Feld seiner eigensten Begabung, mehr
noch als selbst in der eigentlichen Lyrik. Schon die Stoffe — wie ganz
spezifisch Mörikisch! Diese „Sommerwesten", diese musikalische, erinnerungs¬
reiche Gartenthür, diese Schnakenjagd! Und vor allem der „Thurmhahn"!
Und nicht minder dem Dichter eigen ist die Form, die nicht sowohl starke
Effekte als feinste Nüancirung begünstigt. Im gewöhnlichen Gesprächstone, als
ob von Poesie gar nicht die Rede sei, hebt er an, aber unmerklich schmiegt sich
die Sprache jeder Stimmung an, weiß sie zu jeder sich zu erheben. -Das ist,
so verschieden sie sonst sind, den Knittelversen des „Thurmhahns" und den
antiken Meeren gemeinsam. Der Dichter braucht keine zu hoch gespannte, keine
überflüssige Empfindung aufzuregen, weil er sicher ist, die natürliche, nothwen¬
dige in jedem Augenblicke zu wecken. Welche Wirkung thut an seiner Stelle
das eine Wort „Sternenlüfteschwall" im Thurmhahn! So genau gehören hier
Form und Inhalt zusammen, daß man nicht ohne Bangen daran denken kann,
was aus diesen Stoffen, z. B. den „Sommerwesten", unter andern Händen ge¬
worden wäre, aus Stoffen, die nur eine vollkommen wahre Beleuchtung ver¬
tragen und doch eine so warme brauchen, um interessant zu sein. Es ist häufig
die Erinnerung, die ihnen dieses warme Licht gibt, oder der Gedanke, daß sie
bald der Erinnerung angehören werden. Aber wie rein erklingt dieser Ton
der Wehmuth, und wie zart! Milde Resignation ist ihm gesellt, und er ver¬
trägt sich mit einem kerngesunden Humor. Ja gerade in dem „reizenden Jn-
einanderspiel von Ironie und Wehmuth" liegt zuweilen der zarteste Reiz, wie
dies Strauß an dem „Besuch in der Carthause" feinsinnig entwickelt hat. Auch
das tragische Motiv des Todes in der Jugendblüthe, das jetzt bedeutsam hervor¬
tritt, rückt der Dichter in ein solches Widerspiel von Licht und Schatten, kontrastirt
den Sonnenglanz des Lebens — zart, aber wunderbar ergreifend — nicht mit
dem Tode, sondern mit der Todesahnung, wie in dem Lied „Denk' es, o Seele",
so in dem Gedicht „Erinna an Sappho". Wie sich jenes an den Ton böh¬
mischer Volkslieder, dieses an die Reste griechischer Lyrik glücklich anlehnt, so
trifft er, wo ihn ein äußerer Anlaß noch einmal zu Ballade und Volkslied
zurückführt"), mit Sicherheit jedesmal den angemessenen Ton, in der „Ritterlichen
Werbung" den kurzangebundenen des englischen Vorbildes^), in „Jedem das
Seine" den Ton der raschen Tanzweise und das slavische Kolorit. Eines Sich-
eingewöhnens bedarf es bei den späteren Gedichten, so eigenartig sie sind, viel
weniger als bei den früheren; aber wenn Klaiber sagt, daß sie weit allgemeiner
bekannt seien, so stehen meine Erfahrungen damit im Widerspruch. Nicht




*) Vgl. Roller: Ed. Mörike, S, 23.
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**) Vgl. IKe Ls^s Oxers,, S> book? ok via rkz^mes ritt meo äreZSW dz? ^VÄtsr Ohne.
London K New-York (1876) S- 48.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/190>, abgerufen am 03.07.2024.