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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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müheloser Bewegungen. Er liebt wie Goethe "Gaukler und Volk". Das Volk,
weil bei ihm das Allgemeinmenschliche sich naiver, unverschnörkelter darstellt,
das bewußte, absichtliche Streben weniger entwickelt ist und die Geschäfte ihren
Gang gehen wie die Jahreszeiten. Verschämt gesteht der Dichter, daß ihn
selbst wohl der Wunsch nach solchem Leben anwandte.

Aus so engen Kreisen wird man sich wenig versprechen. Allein wie neu
und farbig erscheint uns hier das Altbekannte.^ Mörike hat sich die Sinnen¬
frische und Sinnenfreude des Kindes bewahrt, das überall staunen und stehen
bleiben kann. Und ihm ist der Drang eingeboren, dieses Geschaute wieder zu
gestalten, den individuellen Eindruck festzuhalten, ihn recht eigentlich sprachlich
zu bewältigen. Er hat die Unbefangenheit, mit eignen Augen zu sehen und zu
sagen, was er gesehen und wie er es gesehen. Das ist der Grund, warum er
uns so häufig auf den ersten Blick befremdet, warum er so viel origineller
ist als die meisten unserer neueren Dichter. Er meidet sast ängstlich alles, was
an Phrase nur erinnert. Eine volle, ungebrochene Freude am Leben ist ihm
eigen, die in der Bodensee-Jdylle im Eingange des siebenten Gesangs ihren klas¬
sischen Ausdruck gefunden hat. Mit welcher Innigkeit schildert er Jugend und
Alter, von dem Kinde mit rothgeschlafenen Backen bis zu dem Greis, dem mit
den Sinnen auch die Empfindung abstirbt. Wie geht ihm das Herz auf, wo
sich blühende Jugend in beglückender Liebe findet, und wie wunderbar ergreift
ihn der Tod in der Blüthe der Jahre. Tief und schön bezeichnete Bischer, der
langjährige Freund des Dichters, sein Wesen mit den Worten, die er ihm in die
Gruft nachrief: "Ja, Liebe, das war es: herzliches Sichversetzen in jeden fremden
Zustand, in Alles und Jedes, was Menschen sind und leben und leiden, und auch
in die arme, dunkle Seele der sprachlosen Kreatur." Aber es ist immer das
Kleine zuerst, beschränkte Zustände, Existenzen niederer Ordnung, ruhiges Dasein,
in das Mörike am liebsten sich versenkt. Ein mißhandeltes Pferd in einem seiner
Märchen spricht: "Ich wollt' es holte mich ein Dieb, den würd' ich sanft
wegtragen!" Dieser Stoßseufzer, so ganz ans der Seele des Thieres heraus,
so rührend, aber ohne alle Sentimentalität, so humoristisch, mit einem Worte,
so naiv, gibt einen Begriff von Mörikes ganzer Poesie, wie ich ihn kürzer und
treffender nicht zu geben wüßte. Und damit ist das eigentliche Geheimniß
dieser Poesie schon ausgesprochen. Man könnte, wenn man heutzutage noch
Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung als bekannt
voraussetzen dürfte, das Beste, was über Mörike zu sagen ist, in die Worte
zusammenfassen: Mörike ist ein naiver Dichter im Sinne Schillers. Was
aber damit gemeint ist, tritt am schärfsten durch einen Gegensatz ins Licht.
Wenn Schiller von Klopstock fagt, daß er "immer nur den Geist unter die
Waffen rufe, ohne den Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu


müheloser Bewegungen. Er liebt wie Goethe „Gaukler und Volk". Das Volk,
weil bei ihm das Allgemeinmenschliche sich naiver, unverschnörkelter darstellt,
das bewußte, absichtliche Streben weniger entwickelt ist und die Geschäfte ihren
Gang gehen wie die Jahreszeiten. Verschämt gesteht der Dichter, daß ihn
selbst wohl der Wunsch nach solchem Leben anwandte.

Aus so engen Kreisen wird man sich wenig versprechen. Allein wie neu
und farbig erscheint uns hier das Altbekannte.^ Mörike hat sich die Sinnen¬
frische und Sinnenfreude des Kindes bewahrt, das überall staunen und stehen
bleiben kann. Und ihm ist der Drang eingeboren, dieses Geschaute wieder zu
gestalten, den individuellen Eindruck festzuhalten, ihn recht eigentlich sprachlich
zu bewältigen. Er hat die Unbefangenheit, mit eignen Augen zu sehen und zu
sagen, was er gesehen und wie er es gesehen. Das ist der Grund, warum er
uns so häufig auf den ersten Blick befremdet, warum er so viel origineller
ist als die meisten unserer neueren Dichter. Er meidet sast ängstlich alles, was
an Phrase nur erinnert. Eine volle, ungebrochene Freude am Leben ist ihm
eigen, die in der Bodensee-Jdylle im Eingange des siebenten Gesangs ihren klas¬
sischen Ausdruck gefunden hat. Mit welcher Innigkeit schildert er Jugend und
Alter, von dem Kinde mit rothgeschlafenen Backen bis zu dem Greis, dem mit
den Sinnen auch die Empfindung abstirbt. Wie geht ihm das Herz auf, wo
sich blühende Jugend in beglückender Liebe findet, und wie wunderbar ergreift
ihn der Tod in der Blüthe der Jahre. Tief und schön bezeichnete Bischer, der
langjährige Freund des Dichters, sein Wesen mit den Worten, die er ihm in die
Gruft nachrief: „Ja, Liebe, das war es: herzliches Sichversetzen in jeden fremden
Zustand, in Alles und Jedes, was Menschen sind und leben und leiden, und auch
in die arme, dunkle Seele der sprachlosen Kreatur." Aber es ist immer das
Kleine zuerst, beschränkte Zustände, Existenzen niederer Ordnung, ruhiges Dasein,
in das Mörike am liebsten sich versenkt. Ein mißhandeltes Pferd in einem seiner
Märchen spricht: „Ich wollt' es holte mich ein Dieb, den würd' ich sanft
wegtragen!" Dieser Stoßseufzer, so ganz ans der Seele des Thieres heraus,
so rührend, aber ohne alle Sentimentalität, so humoristisch, mit einem Worte,
so naiv, gibt einen Begriff von Mörikes ganzer Poesie, wie ich ihn kürzer und
treffender nicht zu geben wüßte. Und damit ist das eigentliche Geheimniß
dieser Poesie schon ausgesprochen. Man könnte, wenn man heutzutage noch
Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung als bekannt
voraussetzen dürfte, das Beste, was über Mörike zu sagen ist, in die Worte
zusammenfassen: Mörike ist ein naiver Dichter im Sinne Schillers. Was
aber damit gemeint ist, tritt am schärfsten durch einen Gegensatz ins Licht.
Wenn Schiller von Klopstock fagt, daß er „immer nur den Geist unter die
Waffen rufe, ohne den Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/182>, abgerufen am 26.08.2024.