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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Höheres gewöhnlich entmuthigte, mit einer Dynastie, welche als eine Noth¬
wendigkeit acceptirt worden, dem Lande aber nach Herkunft und Charakter
fremd war, mit einer Regierung, die zwar mild und duldsam, aber eigennützig
und aller Reform abhold war, verfiel die Nation allmählich in einen Zustand
tiefster Apathie. "Als die letzte Rebellion (die von 1745) ausbrach," sagt Lord
Hardwicke 1749, "waren, wie ich glaube, die meisten Menschen überzeugt, daß,
wenn die Rebellen gesiegt hätten, Papstthum und Knechtschaft die unausbleib¬
liche Folge gewesen wären, und welchen schwachen Widerstand leistete gleich¬
wohl das Volk allenthalben!" Henry Fox schrieb im Hinblick auf das Unter¬
nehmen des Prätendenten: "England gehört dem, der zuerst kommt, und wer
sagen kann, ob die 6000 Holländer und die zehn englischen Bataillone oder
die 5000 Franzosen (zur Unterstützung der Sache der Stuarts) zuerst hier
sein werden, der weiß, wie es uns ergehen wird." "Die Franzosen sind, Gott
sei Dank, nicht gekommen; wenn aber ihrer 5000 an irgend einem Punkte der
Insel vor acht Tagen gelandet wären, so glaube ich wirklich, die ganze Er¬
oberung würde ihnen nicht einmal eine Schlacht gekostet haben."

Zu dieser Gleichgiltigkeit kamen andere Gebrechen und Mißstände. Unter
den ersten hannoverschen Königen wurde die Gewohnheit des Branntweintrin¬
kens, welche die Truppen aus den niederländischen Kriegen mitgebracht hatten,
zum Natiouallaster. Viele der vornehmsten Leute huldigten dieser Leidenschaft.
Addison, der erste Moralist seiner Zeit, war nicht frei davon. Oxford erschien
nicht selten betrunken sogar vor der Königin Anna. Bolingbroke verbrachte
als Minister ganze Nächte mit Zechen. Die Trinkgelage Walpoles zu Houghton
waren das Aergerniß der Grafschaft. Carterets glänzender Verstand wurde
durch den Trunk umnachtet, und Pulteney verkürzte sich durch unmäßigen Ge¬
nuß von Spirituosen das Leben. Das niedere Volk that desgleichen. In
den Jahren 1724 bis 1736 hatte sich das Gefallen am Schwelgen in Wach-
holderschnaps wie eine Epidemie über die englische Bevölkerung verbreitet.
1714 hatte die Destillation geistiger Getränke in England nur zwei Millionen
Gallonen betragen, 1727 war sie auf 3 601000 und 1735 auf 5394000 ge¬
stiegen. Aerzte erklärten, daß in Folge dessen die Sterblichkeit in England
in furchtbarem Grade zugenommen habe. Die große Jury von Middlesex be¬
richtete, daß bei weitem die größere Hülste der Fälle von Verarmung, Raub
und Mord in London auf diese Ursache zurückzuführen sei. Detailverkäufer
von Gin pflegten Schilder aufzuhängen, auf denen es hieß, man könne sich
bei ihnen für einen Penny betrinken, für zwei Pence gründlich betrinken und
Stroh zum Ausschlafen des Rausches umsonst dazuhaben. Das Uebel nahm
so entsetzliche Dimensionen an, daß selbst das keineswegs reformatorische Par¬
lament Walpoles die Nothwendigkeit begriff, ihm mit strengen Maßregeln zu


Höheres gewöhnlich entmuthigte, mit einer Dynastie, welche als eine Noth¬
wendigkeit acceptirt worden, dem Lande aber nach Herkunft und Charakter
fremd war, mit einer Regierung, die zwar mild und duldsam, aber eigennützig
und aller Reform abhold war, verfiel die Nation allmählich in einen Zustand
tiefster Apathie. „Als die letzte Rebellion (die von 1745) ausbrach," sagt Lord
Hardwicke 1749, „waren, wie ich glaube, die meisten Menschen überzeugt, daß,
wenn die Rebellen gesiegt hätten, Papstthum und Knechtschaft die unausbleib¬
liche Folge gewesen wären, und welchen schwachen Widerstand leistete gleich¬
wohl das Volk allenthalben!" Henry Fox schrieb im Hinblick auf das Unter¬
nehmen des Prätendenten: „England gehört dem, der zuerst kommt, und wer
sagen kann, ob die 6000 Holländer und die zehn englischen Bataillone oder
die 5000 Franzosen (zur Unterstützung der Sache der Stuarts) zuerst hier
sein werden, der weiß, wie es uns ergehen wird." „Die Franzosen sind, Gott
sei Dank, nicht gekommen; wenn aber ihrer 5000 an irgend einem Punkte der
Insel vor acht Tagen gelandet wären, so glaube ich wirklich, die ganze Er¬
oberung würde ihnen nicht einmal eine Schlacht gekostet haben."

Zu dieser Gleichgiltigkeit kamen andere Gebrechen und Mißstände. Unter
den ersten hannoverschen Königen wurde die Gewohnheit des Branntweintrin¬
kens, welche die Truppen aus den niederländischen Kriegen mitgebracht hatten,
zum Natiouallaster. Viele der vornehmsten Leute huldigten dieser Leidenschaft.
Addison, der erste Moralist seiner Zeit, war nicht frei davon. Oxford erschien
nicht selten betrunken sogar vor der Königin Anna. Bolingbroke verbrachte
als Minister ganze Nächte mit Zechen. Die Trinkgelage Walpoles zu Houghton
waren das Aergerniß der Grafschaft. Carterets glänzender Verstand wurde
durch den Trunk umnachtet, und Pulteney verkürzte sich durch unmäßigen Ge¬
nuß von Spirituosen das Leben. Das niedere Volk that desgleichen. In
den Jahren 1724 bis 1736 hatte sich das Gefallen am Schwelgen in Wach-
holderschnaps wie eine Epidemie über die englische Bevölkerung verbreitet.
1714 hatte die Destillation geistiger Getränke in England nur zwei Millionen
Gallonen betragen, 1727 war sie auf 3 601000 und 1735 auf 5394000 ge¬
stiegen. Aerzte erklärten, daß in Folge dessen die Sterblichkeit in England
in furchtbarem Grade zugenommen habe. Die große Jury von Middlesex be¬
richtete, daß bei weitem die größere Hülste der Fälle von Verarmung, Raub
und Mord in London auf diese Ursache zurückzuführen sei. Detailverkäufer
von Gin pflegten Schilder aufzuhängen, auf denen es hieß, man könne sich
bei ihnen für einen Penny betrinken, für zwei Pence gründlich betrinken und
Stroh zum Ausschlafen des Rausches umsonst dazuhaben. Das Uebel nahm
so entsetzliche Dimensionen an, daß selbst das keineswegs reformatorische Par¬
lament Walpoles die Nothwendigkeit begriff, ihm mit strengen Maßregeln zu


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[0151] Höheres gewöhnlich entmuthigte, mit einer Dynastie, welche als eine Noth¬ wendigkeit acceptirt worden, dem Lande aber nach Herkunft und Charakter fremd war, mit einer Regierung, die zwar mild und duldsam, aber eigennützig und aller Reform abhold war, verfiel die Nation allmählich in einen Zustand tiefster Apathie. „Als die letzte Rebellion (die von 1745) ausbrach," sagt Lord Hardwicke 1749, „waren, wie ich glaube, die meisten Menschen überzeugt, daß, wenn die Rebellen gesiegt hätten, Papstthum und Knechtschaft die unausbleib¬ liche Folge gewesen wären, und welchen schwachen Widerstand leistete gleich¬ wohl das Volk allenthalben!" Henry Fox schrieb im Hinblick auf das Unter¬ nehmen des Prätendenten: „England gehört dem, der zuerst kommt, und wer sagen kann, ob die 6000 Holländer und die zehn englischen Bataillone oder die 5000 Franzosen (zur Unterstützung der Sache der Stuarts) zuerst hier sein werden, der weiß, wie es uns ergehen wird." „Die Franzosen sind, Gott sei Dank, nicht gekommen; wenn aber ihrer 5000 an irgend einem Punkte der Insel vor acht Tagen gelandet wären, so glaube ich wirklich, die ganze Er¬ oberung würde ihnen nicht einmal eine Schlacht gekostet haben." Zu dieser Gleichgiltigkeit kamen andere Gebrechen und Mißstände. Unter den ersten hannoverschen Königen wurde die Gewohnheit des Branntweintrin¬ kens, welche die Truppen aus den niederländischen Kriegen mitgebracht hatten, zum Natiouallaster. Viele der vornehmsten Leute huldigten dieser Leidenschaft. Addison, der erste Moralist seiner Zeit, war nicht frei davon. Oxford erschien nicht selten betrunken sogar vor der Königin Anna. Bolingbroke verbrachte als Minister ganze Nächte mit Zechen. Die Trinkgelage Walpoles zu Houghton waren das Aergerniß der Grafschaft. Carterets glänzender Verstand wurde durch den Trunk umnachtet, und Pulteney verkürzte sich durch unmäßigen Ge¬ nuß von Spirituosen das Leben. Das niedere Volk that desgleichen. In den Jahren 1724 bis 1736 hatte sich das Gefallen am Schwelgen in Wach- holderschnaps wie eine Epidemie über die englische Bevölkerung verbreitet. 1714 hatte die Destillation geistiger Getränke in England nur zwei Millionen Gallonen betragen, 1727 war sie auf 3 601000 und 1735 auf 5394000 ge¬ stiegen. Aerzte erklärten, daß in Folge dessen die Sterblichkeit in England in furchtbarem Grade zugenommen habe. Die große Jury von Middlesex be¬ richtete, daß bei weitem die größere Hülste der Fälle von Verarmung, Raub und Mord in London auf diese Ursache zurückzuführen sei. Detailverkäufer von Gin pflegten Schilder aufzuhängen, auf denen es hieß, man könne sich bei ihnen für einen Penny betrinken, für zwei Pence gründlich betrinken und Stroh zum Ausschlafen des Rausches umsonst dazuhaben. Das Uebel nahm so entsetzliche Dimensionen an, daß selbst das keineswegs reformatorische Par¬ lament Walpoles die Nothwendigkeit begriff, ihm mit strengen Maßregeln zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/151>, abgerufen am 06.07.2024.