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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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das Wechseln der Allicmcen eine Pflicht der Selbsterhaltung: er durfte weder
Frankreich noch Oesterreich übermächtig werden lassen, wenn der in Preußen
verkörperte Gedanke, wenn das werdende Neudeutschland mächtig bleiben und
an Macht wachsen sollte. Unbewußt, vielleicht ahnend, hat der große König
mit der gewaltsamen Besitznahme Schlesiens diesem Gedanken gedient, der ein
Gedanke des Geistes ist, welcher die Geschichte lenkt und zum Heile Europas
aus Deutschland einen Staat gestalten wollte, wie wir ihn jetzt sehen. Doch
das sind Dinge, die nur Engländer nicht zu begreifen scheinen, und da es
nicht unsre Aufgabe ist, solchen den Verlauf der deutschen Regeneration mund¬
gerecht zu machen, so sehen wir von diesem Mangel unserer Schrift ab und
betrachten nur, was uns an ihr erfreut und belehrt.

Das Werk Leckys fällt uach dem Zeitraume, mit dem es zu thun hat,
ungefähr mit Lord Stanhopes "Geschichte Englands vom Utrechter Vertrage
bis zum Frieden von Versailles" zusammen, und natürlich erzählt es meist
dieselben Dinge wie diese in ihrer Art vorzügliche Arbeit. Aber der Plan,
die Zwecke, die Klasse von Thatsachen, bei denen vorzugsweise verweilt wird,
sind bei beiden Autoren wesentlich verschieden, und an philosophischer Tiefe
und künstlerischer Begabung ist Lecky seinem Vorgänger entschieden überlegen.
Die Aufgabe, die er sich stellt, ist nicht, die Geschichte der von ihm gewählten
Periode Jahr für Jahr zu schreiben oder militärische Ereignisse, Staatsaktionen
und Parteivorkommnisse ausführlich zu schildern. Er verfährt vielmehr so,
daß er aus der Masse der vor ihm liegenden Thatsachen diejenigen heraus¬
hebt und darstellt, welche sich auf die nachhaltigen Kräfte des englischen Volkes
beziehen und die bleibenden Züge des nationalen Lebens bezeichnen. Das
Steigen oder Sinken der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, der Kirche
und des Dissenterthums, der kommerziellen, industriellen und landwirthschaft-
lichen Interessen, die wachsende Macht des Parlaments und der Presse, die
Entwickelung der politischen Ideen, der Kunst und des Glaubens, die Wand¬
lungen in der gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Lage des englischen Volkes,
die Einflüsse, welche den Nationalcharakter und die Sitten allmählich verändert
haben, die Beziehungen des Mutterlandes zu den Kolonieen endlich, sowie die
Ursachen, durch welche das Fortschreiten der letzteren beschleunigt oder verzögert
wurde -- das sind in der Hauptsache die Themata, welche hier auf Grund
eines sorgfältigen Quellenstudiums behandelt werden.

Ein Buch spricht am besten für sich selbst, und so wollen wir ihm im
Folgenden im wesentlichen das Wort lassen. Wir wählen dazu die Sitten¬
schilderungen aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die sich in den
letzten Abschnitten des dritten und im vierten Kapitel (S. 487--617) zerstreut
finden, und die wir in Auszügen zu einem Bilde des englischen Kulturlebens


das Wechseln der Allicmcen eine Pflicht der Selbsterhaltung: er durfte weder
Frankreich noch Oesterreich übermächtig werden lassen, wenn der in Preußen
verkörperte Gedanke, wenn das werdende Neudeutschland mächtig bleiben und
an Macht wachsen sollte. Unbewußt, vielleicht ahnend, hat der große König
mit der gewaltsamen Besitznahme Schlesiens diesem Gedanken gedient, der ein
Gedanke des Geistes ist, welcher die Geschichte lenkt und zum Heile Europas
aus Deutschland einen Staat gestalten wollte, wie wir ihn jetzt sehen. Doch
das sind Dinge, die nur Engländer nicht zu begreifen scheinen, und da es
nicht unsre Aufgabe ist, solchen den Verlauf der deutschen Regeneration mund¬
gerecht zu machen, so sehen wir von diesem Mangel unserer Schrift ab und
betrachten nur, was uns an ihr erfreut und belehrt.

Das Werk Leckys fällt uach dem Zeitraume, mit dem es zu thun hat,
ungefähr mit Lord Stanhopes „Geschichte Englands vom Utrechter Vertrage
bis zum Frieden von Versailles" zusammen, und natürlich erzählt es meist
dieselben Dinge wie diese in ihrer Art vorzügliche Arbeit. Aber der Plan,
die Zwecke, die Klasse von Thatsachen, bei denen vorzugsweise verweilt wird,
sind bei beiden Autoren wesentlich verschieden, und an philosophischer Tiefe
und künstlerischer Begabung ist Lecky seinem Vorgänger entschieden überlegen.
Die Aufgabe, die er sich stellt, ist nicht, die Geschichte der von ihm gewählten
Periode Jahr für Jahr zu schreiben oder militärische Ereignisse, Staatsaktionen
und Parteivorkommnisse ausführlich zu schildern. Er verfährt vielmehr so,
daß er aus der Masse der vor ihm liegenden Thatsachen diejenigen heraus¬
hebt und darstellt, welche sich auf die nachhaltigen Kräfte des englischen Volkes
beziehen und die bleibenden Züge des nationalen Lebens bezeichnen. Das
Steigen oder Sinken der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, der Kirche
und des Dissenterthums, der kommerziellen, industriellen und landwirthschaft-
lichen Interessen, die wachsende Macht des Parlaments und der Presse, die
Entwickelung der politischen Ideen, der Kunst und des Glaubens, die Wand¬
lungen in der gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Lage des englischen Volkes,
die Einflüsse, welche den Nationalcharakter und die Sitten allmählich verändert
haben, die Beziehungen des Mutterlandes zu den Kolonieen endlich, sowie die
Ursachen, durch welche das Fortschreiten der letzteren beschleunigt oder verzögert
wurde — das sind in der Hauptsache die Themata, welche hier auf Grund
eines sorgfältigen Quellenstudiums behandelt werden.

Ein Buch spricht am besten für sich selbst, und so wollen wir ihm im
Folgenden im wesentlichen das Wort lassen. Wir wählen dazu die Sitten¬
schilderungen aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die sich in den
letzten Abschnitten des dritten und im vierten Kapitel (S. 487—617) zerstreut
finden, und die wir in Auszügen zu einem Bilde des englischen Kulturlebens


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[0149] das Wechseln der Allicmcen eine Pflicht der Selbsterhaltung: er durfte weder Frankreich noch Oesterreich übermächtig werden lassen, wenn der in Preußen verkörperte Gedanke, wenn das werdende Neudeutschland mächtig bleiben und an Macht wachsen sollte. Unbewußt, vielleicht ahnend, hat der große König mit der gewaltsamen Besitznahme Schlesiens diesem Gedanken gedient, der ein Gedanke des Geistes ist, welcher die Geschichte lenkt und zum Heile Europas aus Deutschland einen Staat gestalten wollte, wie wir ihn jetzt sehen. Doch das sind Dinge, die nur Engländer nicht zu begreifen scheinen, und da es nicht unsre Aufgabe ist, solchen den Verlauf der deutschen Regeneration mund¬ gerecht zu machen, so sehen wir von diesem Mangel unserer Schrift ab und betrachten nur, was uns an ihr erfreut und belehrt. Das Werk Leckys fällt uach dem Zeitraume, mit dem es zu thun hat, ungefähr mit Lord Stanhopes „Geschichte Englands vom Utrechter Vertrage bis zum Frieden von Versailles" zusammen, und natürlich erzählt es meist dieselben Dinge wie diese in ihrer Art vorzügliche Arbeit. Aber der Plan, die Zwecke, die Klasse von Thatsachen, bei denen vorzugsweise verweilt wird, sind bei beiden Autoren wesentlich verschieden, und an philosophischer Tiefe und künstlerischer Begabung ist Lecky seinem Vorgänger entschieden überlegen. Die Aufgabe, die er sich stellt, ist nicht, die Geschichte der von ihm gewählten Periode Jahr für Jahr zu schreiben oder militärische Ereignisse, Staatsaktionen und Parteivorkommnisse ausführlich zu schildern. Er verfährt vielmehr so, daß er aus der Masse der vor ihm liegenden Thatsachen diejenigen heraus¬ hebt und darstellt, welche sich auf die nachhaltigen Kräfte des englischen Volkes beziehen und die bleibenden Züge des nationalen Lebens bezeichnen. Das Steigen oder Sinken der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, der Kirche und des Dissenterthums, der kommerziellen, industriellen und landwirthschaft- lichen Interessen, die wachsende Macht des Parlaments und der Presse, die Entwickelung der politischen Ideen, der Kunst und des Glaubens, die Wand¬ lungen in der gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Lage des englischen Volkes, die Einflüsse, welche den Nationalcharakter und die Sitten allmählich verändert haben, die Beziehungen des Mutterlandes zu den Kolonieen endlich, sowie die Ursachen, durch welche das Fortschreiten der letzteren beschleunigt oder verzögert wurde — das sind in der Hauptsache die Themata, welche hier auf Grund eines sorgfältigen Quellenstudiums behandelt werden. Ein Buch spricht am besten für sich selbst, und so wollen wir ihm im Folgenden im wesentlichen das Wort lassen. Wir wählen dazu die Sitten¬ schilderungen aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die sich in den letzten Abschnitten des dritten und im vierten Kapitel (S. 487—617) zerstreut finden, und die wir in Auszügen zu einem Bilde des englischen Kulturlebens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/149>, abgerufen am 05.07.2024.