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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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erzeugte die Idee des allgemeinen Priesterthums, und diese bildete den Grund¬
stein des neuen Baues. Aber die Welt, der er den reformatorischen Gedanken
verkündete, war nicht fähig, in seiner Reinheit ihn zu erfassen und auszuge¬
stalten. So mußte er sich in Hüllen kleiden, die seinen Glanz trübten; aber
vielleicht waren sie unentbehrlich, um ihn überhaupt nur der Welt zu erhalten.

Nur wenige Worte fügen wir noch hinzu, um die Beziehungen der refor¬
matorischen Genossen Luthers zur Mystik zu charakterisiren. Melanthon hat
von Anfang an eine ablehnende Stellung gegenüber der Mystik eingenommen;
seine reflektirende Verständigung und ethische Nüchternheit hielten ihn von ihr
zurück. Zwischen beiden Seiten bestand Gegensatz, keine Verwandtschaft.*)
Noch weniger empfänglich für Einflüsse der Mystik war Calvin; die Schärfe
seines Denkens und Wollens, die juristische Ader in seinem geistigen Organis¬
mus, schloß Anknüpfungspunkte für den beschaulichen Genius der Mystik aus.
Der große, auch in seiner Einseitigkeit große Organisator Genfs und das
idyllische Stillleben der Mystik mußten sich fremd bleiben.**) Zwingli endlich
hat wohl in seiner Theologie Elemente, welche an den Geist der Mystik er¬
innern; wir denken an seine Verneinung der Bedeutung der heiligen Schrift
als eines Mittels für die Wirksamkeit des heiligen Geistes; an seine Behaup¬
tung, daß derselbe ohne jegliche äußere Vermittelung sich der Innerlichkeit des
Subjekts zueigne; aber weder sein Entwickelungsgang, noch sein auf gestalten¬
des Handeln gerichtetes Naturell hat ein inneres positives Band zwischen ihm
und der Mystik geknüpft.

So sehen wir denn, wie nur in sehr beschränktem Maße die Mystik die
Reformation bedingt hat. Wir könnten es auch nicht anders erwarten. Die
Mystik trägt einen unbestimmten, mehr oder weniger formlosen Charakter, sie
ist weiblicher Natur; die Reformation dagegen ruht auf einem festen, klaren
Prinzip und ist männliche That. Darum soll das Recht und die Bedeutung
der Mystik nicht gekränkt werden; sie hat den herrschenden Gewalten der mittel¬
alterlichen Kirche gegenüber, die im äußeren Gehorsam und Handeln den Heils¬
weg wiesen, das Recht der religiösen Innerlichkeit als der Quelle wahren ethi¬
schen Lebens behauptet. Und diesem Berufe ist sie treu geblieben auch in




") So das Urtheil Herrlingers in seiner "Theologie Melanchthons in ihrer ge¬
schichtlichen Entwickelung und im Zusammenhange mit der Lehrgeschichte und Kulturbewe-
gung der Reformation" (Gotha, Perthes, 1379), einem verdienstvollen Werke, das zum
ersten Male ein Gesammtbild der Lehre Melanthons auch auf nicht theologischen Gebiete
zeichnet,
**) Vgl. den Vortrag von Kaltenbusch: "Johann Calvin" in den Jahrbüchern für
deutsche Theologie, Bd. 23. -- Dörner a, a, O, S. 376: "War er auch nicht spekulativen
und intuitiver Geistes, so war dagegen sein Verstand und sein Urtheil um so eindringender
und schärfer, sein Gedächtniß umfassend."

erzeugte die Idee des allgemeinen Priesterthums, und diese bildete den Grund¬
stein des neuen Baues. Aber die Welt, der er den reformatorischen Gedanken
verkündete, war nicht fähig, in seiner Reinheit ihn zu erfassen und auszuge¬
stalten. So mußte er sich in Hüllen kleiden, die seinen Glanz trübten; aber
vielleicht waren sie unentbehrlich, um ihn überhaupt nur der Welt zu erhalten.

Nur wenige Worte fügen wir noch hinzu, um die Beziehungen der refor¬
matorischen Genossen Luthers zur Mystik zu charakterisiren. Melanthon hat
von Anfang an eine ablehnende Stellung gegenüber der Mystik eingenommen;
seine reflektirende Verständigung und ethische Nüchternheit hielten ihn von ihr
zurück. Zwischen beiden Seiten bestand Gegensatz, keine Verwandtschaft.*)
Noch weniger empfänglich für Einflüsse der Mystik war Calvin; die Schärfe
seines Denkens und Wollens, die juristische Ader in seinem geistigen Organis¬
mus, schloß Anknüpfungspunkte für den beschaulichen Genius der Mystik aus.
Der große, auch in seiner Einseitigkeit große Organisator Genfs und das
idyllische Stillleben der Mystik mußten sich fremd bleiben.**) Zwingli endlich
hat wohl in seiner Theologie Elemente, welche an den Geist der Mystik er¬
innern; wir denken an seine Verneinung der Bedeutung der heiligen Schrift
als eines Mittels für die Wirksamkeit des heiligen Geistes; an seine Behaup¬
tung, daß derselbe ohne jegliche äußere Vermittelung sich der Innerlichkeit des
Subjekts zueigne; aber weder sein Entwickelungsgang, noch sein auf gestalten¬
des Handeln gerichtetes Naturell hat ein inneres positives Band zwischen ihm
und der Mystik geknüpft.

So sehen wir denn, wie nur in sehr beschränktem Maße die Mystik die
Reformation bedingt hat. Wir könnten es auch nicht anders erwarten. Die
Mystik trägt einen unbestimmten, mehr oder weniger formlosen Charakter, sie
ist weiblicher Natur; die Reformation dagegen ruht auf einem festen, klaren
Prinzip und ist männliche That. Darum soll das Recht und die Bedeutung
der Mystik nicht gekränkt werden; sie hat den herrschenden Gewalten der mittel¬
alterlichen Kirche gegenüber, die im äußeren Gehorsam und Handeln den Heils¬
weg wiesen, das Recht der religiösen Innerlichkeit als der Quelle wahren ethi¬
schen Lebens behauptet. Und diesem Berufe ist sie treu geblieben auch in




») So das Urtheil Herrlingers in seiner „Theologie Melanchthons in ihrer ge¬
schichtlichen Entwickelung und im Zusammenhange mit der Lehrgeschichte und Kulturbewe-
gung der Reformation" (Gotha, Perthes, 1379), einem verdienstvollen Werke, das zum
ersten Male ein Gesammtbild der Lehre Melanthons auch auf nicht theologischen Gebiete
zeichnet,
**) Vgl. den Vortrag von Kaltenbusch: „Johann Calvin" in den Jahrbüchern für
deutsche Theologie, Bd. 23. — Dörner a, a, O, S. 376: „War er auch nicht spekulativen
und intuitiver Geistes, so war dagegen sein Verstand und sein Urtheil um so eindringender
und schärfer, sein Gedächtniß umfassend."
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[0147] erzeugte die Idee des allgemeinen Priesterthums, und diese bildete den Grund¬ stein des neuen Baues. Aber die Welt, der er den reformatorischen Gedanken verkündete, war nicht fähig, in seiner Reinheit ihn zu erfassen und auszuge¬ stalten. So mußte er sich in Hüllen kleiden, die seinen Glanz trübten; aber vielleicht waren sie unentbehrlich, um ihn überhaupt nur der Welt zu erhalten. Nur wenige Worte fügen wir noch hinzu, um die Beziehungen der refor¬ matorischen Genossen Luthers zur Mystik zu charakterisiren. Melanthon hat von Anfang an eine ablehnende Stellung gegenüber der Mystik eingenommen; seine reflektirende Verständigung und ethische Nüchternheit hielten ihn von ihr zurück. Zwischen beiden Seiten bestand Gegensatz, keine Verwandtschaft.*) Noch weniger empfänglich für Einflüsse der Mystik war Calvin; die Schärfe seines Denkens und Wollens, die juristische Ader in seinem geistigen Organis¬ mus, schloß Anknüpfungspunkte für den beschaulichen Genius der Mystik aus. Der große, auch in seiner Einseitigkeit große Organisator Genfs und das idyllische Stillleben der Mystik mußten sich fremd bleiben.**) Zwingli endlich hat wohl in seiner Theologie Elemente, welche an den Geist der Mystik er¬ innern; wir denken an seine Verneinung der Bedeutung der heiligen Schrift als eines Mittels für die Wirksamkeit des heiligen Geistes; an seine Behaup¬ tung, daß derselbe ohne jegliche äußere Vermittelung sich der Innerlichkeit des Subjekts zueigne; aber weder sein Entwickelungsgang, noch sein auf gestalten¬ des Handeln gerichtetes Naturell hat ein inneres positives Band zwischen ihm und der Mystik geknüpft. So sehen wir denn, wie nur in sehr beschränktem Maße die Mystik die Reformation bedingt hat. Wir könnten es auch nicht anders erwarten. Die Mystik trägt einen unbestimmten, mehr oder weniger formlosen Charakter, sie ist weiblicher Natur; die Reformation dagegen ruht auf einem festen, klaren Prinzip und ist männliche That. Darum soll das Recht und die Bedeutung der Mystik nicht gekränkt werden; sie hat den herrschenden Gewalten der mittel¬ alterlichen Kirche gegenüber, die im äußeren Gehorsam und Handeln den Heils¬ weg wiesen, das Recht der religiösen Innerlichkeit als der Quelle wahren ethi¬ schen Lebens behauptet. Und diesem Berufe ist sie treu geblieben auch in ») So das Urtheil Herrlingers in seiner „Theologie Melanchthons in ihrer ge¬ schichtlichen Entwickelung und im Zusammenhange mit der Lehrgeschichte und Kulturbewe- gung der Reformation" (Gotha, Perthes, 1379), einem verdienstvollen Werke, das zum ersten Male ein Gesammtbild der Lehre Melanthons auch auf nicht theologischen Gebiete zeichnet, **) Vgl. den Vortrag von Kaltenbusch: „Johann Calvin" in den Jahrbüchern für deutsche Theologie, Bd. 23. — Dörner a, a, O, S. 376: „War er auch nicht spekulativen und intuitiver Geistes, so war dagegen sein Verstand und sein Urtheil um so eindringender und schärfer, sein Gedächtniß umfassend."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/147>, abgerufen am 27.07.2024.