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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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gibt nur eine von diesen darunter, die darauf Anspruch machen kann, eine
mystische genannt zu werden. Wir meinen den herrlichen Traktat: "Von der
Freiheit eines Christenmenschen". Gewiß hat Dörner Recht, wenn er erklärt:
"In dieser Schrift, die der Geist höheren Friedens durchweht, ist der edle Wein
reinster Mystik enthalten."") Und ebenso stimmen wir Ritschl bei, wenn er
auf die hohe ethische Bedeutung des Grundgedankens derselben hinweist.**)
Aber in wie gedämpften Tönen erklingt hier die Stimme der Mystik! Die
charakteristischen Eigenschaften derselben fehlen. Der erste Theil, welcher den
Nachweis liefern will, daß "ein Christen-Mensch ist ein freier Herr über alle
Dinge", überschreitet nicht die Gedankenreihe, die wir in den Paulinischen
Briefen, besonders im Briefe an die Römer finden. Der Glaube befreit uns
von dem Wahne, auf dem Wege des Gesetzes Gerechtigkeit zu suchen, schließt
sich vielmehr mit dem göttlichen Worte zusammen, das uns auf Christus als
Heilsquelle hinweist, und theilt die Kräfte des göttlichen Wortes der Seele mit.
Indem der Glaube ferner diesen von Gott bestimmten Heilsweg als den wahren
anerkennt, gibt er Gott die Ehre und wird deshalb auch von ihm geehrt,
indem er dem Gläubigen seine Gerechtigkeit mittheilt. Endlich verknüpft der Glaube
aufs innigste die Seele mit Christus, so daß diese an seiner königlichen
und priesterlichen Hoheit Theil nimmt. Das ist der Inhalt des ersten Theils.
Unfehlbar sind das mystische Gedanken, aber es sind nicht die Gedanken der
germanischen, fodern die der neutestamentlichen Mystik, die in den Predigten
der evangelischen Kirche, mehr oder weniger entwickelt, noch heute bezeugt werdeu.
Der zweite Theil tritt dem dogmatischen ersten ergänzend zur Seite, indem er
das ethische Thema vertritt: "Ein Christen-Mensch ist ein dienstbarer Knecht
aller Dinge und Jedermann Unterthan." Die durch den Glauben mit Gott
geeinte Seele bedarf des wirksamen Handelns. Nicht zum Zwecke ihrer Recht¬
fertigung; ist sie doch durch den Glauben an das göttliche Wort zum Heil
gelangt. Darum ist sie aber keineswegs von der Verpflichtung zur Thätigkeit
entbunden. Vielmehr ist sie zu derselben durch ein zweifaches Motiv genöthigt.
Einmal nämlich befindet sie sich in einer Leiblichkeit, die dem Geiste wider¬
streitet, und dieser muß daher gegen jene kämpfen, bis sie mit seinem, dem
Willen des innern Menschen, gleichartig geworden ist. Selbst gereinigt, will
derselbe auch die Leiblichkeit gereinigt wissen, und so arbeitet er an seinem
äußeren Menschen, ausschließlich getrieben dnrch freien Liebesgchorsam gegen
den Willen Gottes sckivinrnn dsnsMeiWiu), nicht irgendwie in der Absicht,
dadurch die göttliche Gnade zu erlangen. Auch wird durch diese Thätigkeit
nicht etwa Glaube und Liebe gemehrt, wie sehr sie auch dessen bedürfen; es ist nur




a, ni. O, Bd. III. S> 147--149.
*) Geschichte der Protest, Theologie S, 101.

gibt nur eine von diesen darunter, die darauf Anspruch machen kann, eine
mystische genannt zu werden. Wir meinen den herrlichen Traktat: „Von der
Freiheit eines Christenmenschen". Gewiß hat Dörner Recht, wenn er erklärt:
„In dieser Schrift, die der Geist höheren Friedens durchweht, ist der edle Wein
reinster Mystik enthalten."") Und ebenso stimmen wir Ritschl bei, wenn er
auf die hohe ethische Bedeutung des Grundgedankens derselben hinweist.**)
Aber in wie gedämpften Tönen erklingt hier die Stimme der Mystik! Die
charakteristischen Eigenschaften derselben fehlen. Der erste Theil, welcher den
Nachweis liefern will, daß „ein Christen-Mensch ist ein freier Herr über alle
Dinge", überschreitet nicht die Gedankenreihe, die wir in den Paulinischen
Briefen, besonders im Briefe an die Römer finden. Der Glaube befreit uns
von dem Wahne, auf dem Wege des Gesetzes Gerechtigkeit zu suchen, schließt
sich vielmehr mit dem göttlichen Worte zusammen, das uns auf Christus als
Heilsquelle hinweist, und theilt die Kräfte des göttlichen Wortes der Seele mit.
Indem der Glaube ferner diesen von Gott bestimmten Heilsweg als den wahren
anerkennt, gibt er Gott die Ehre und wird deshalb auch von ihm geehrt,
indem er dem Gläubigen seine Gerechtigkeit mittheilt. Endlich verknüpft der Glaube
aufs innigste die Seele mit Christus, so daß diese an seiner königlichen
und priesterlichen Hoheit Theil nimmt. Das ist der Inhalt des ersten Theils.
Unfehlbar sind das mystische Gedanken, aber es sind nicht die Gedanken der
germanischen, fodern die der neutestamentlichen Mystik, die in den Predigten
der evangelischen Kirche, mehr oder weniger entwickelt, noch heute bezeugt werdeu.
Der zweite Theil tritt dem dogmatischen ersten ergänzend zur Seite, indem er
das ethische Thema vertritt: „Ein Christen-Mensch ist ein dienstbarer Knecht
aller Dinge und Jedermann Unterthan." Die durch den Glauben mit Gott
geeinte Seele bedarf des wirksamen Handelns. Nicht zum Zwecke ihrer Recht¬
fertigung; ist sie doch durch den Glauben an das göttliche Wort zum Heil
gelangt. Darum ist sie aber keineswegs von der Verpflichtung zur Thätigkeit
entbunden. Vielmehr ist sie zu derselben durch ein zweifaches Motiv genöthigt.
Einmal nämlich befindet sie sich in einer Leiblichkeit, die dem Geiste wider¬
streitet, und dieser muß daher gegen jene kämpfen, bis sie mit seinem, dem
Willen des innern Menschen, gleichartig geworden ist. Selbst gereinigt, will
derselbe auch die Leiblichkeit gereinigt wissen, und so arbeitet er an seinem
äußeren Menschen, ausschließlich getrieben dnrch freien Liebesgchorsam gegen
den Willen Gottes sckivinrnn dsnsMeiWiu), nicht irgendwie in der Absicht,
dadurch die göttliche Gnade zu erlangen. Auch wird durch diese Thätigkeit
nicht etwa Glaube und Liebe gemehrt, wie sehr sie auch dessen bedürfen; es ist nur




a, ni. O, Bd. III. S> 147—149.
*) Geschichte der Protest, Theologie S, 101.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/143>, abgerufen am 03.07.2024.