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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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faltigen Untersuchung unterzogen worden in der Schrift von Hermann
Hering: "Die Mystik Luthers im Zusammenhange seiner Theologie und in
ihrem Verhältniß zur älteren Mystik" (Leipzig, Hinrichs, 1879). Der Verfasser
zeigt uns zuerst Luthers Zusammenhang mit der romanischen Mystik. Die
Urkunden desselben sind die Glossen zum Psalter von 1513 und die Vor¬
lesungen über den Psalter aus den Jahren 1513 bis 1515. Bernhard von
Clairvaux, die mystisch gerichteten Scholastiker Hugo von Se. Viktor und
Bonaventura, vor allem aber die Schriften Augustins sind es, deren Spuren
wir in diesen Anfängen der literarischen Thätigkeit Luthers wahrnehmend)
Und wie wir 'es nicht anders erwarten können, steht hier Luther ganz auf dem
Boden der mittelalterlichen Kirche.

Im Jahre 1515 sehen wir ihn den Boden der deutschen Mystik betreten.
Es ist die "Deutsche Theologie", die er 1516 in Bruchstücken, 1518 vollständig
herausgab, und die er als Auszug aus den Predigten Taulers bezeichnete, es
sind dann die Schriften Taulers selbst, unter deren Einfluß er sich stellte.
Luther hat aufs anerkennendste über diese mystische Theologie geurtheilt.
Und wie sehr er in den Jdeengang derselben eingedrungen ist, davon hat uns
Hering reichliche Belege gegeben. Was Luther zu der germanischen Mystik
hinzog, das war ohne Zweifel theils die sie auszeichnende Intensität unmittel¬
barster Frömmigkeit, theils ihr freier und kühner und doch schlichter und in
edelstem Sinne einfältiger, aller spitzfindigen und künstlichen Wege der Scho¬
lastik sich entschlagender Gedankenflug. Luther ist ihren Bahnen gefolgt, aber
immer nur bis zu einer bestimmten Grenze. Er ist dicht an die Schwelle
ihrer pantheistischen Spekulationen herangetreten, aber er hat sie nicht über¬
schritten. Und daß er dies nicht gethan hat, das dankte er -- wenigstens ist
dies sehr wahrscheinlich -- dem Einflüsse, den vorher die nüchternere romanische
Mystik auf ihn ausgeübt hatte. Was ihn aber zum Reformator gemacht hat,
das war weder das Werk dieser noch jener, es war seine eigenste That.

Als erste Aeußerung seines evangelisch-protestantischen Sinnes betrachten
wir die deutliche, in dieser Deutlichkeit wohl erste Bezeugung der evangelischen
Rechtfertigungslehre aus dem Jahre 1516: "Ein jeder Heilige bleibt fürs eigene
Bewußtsein ein Sünder; ein Gerechter ist er, ohne es zu wissen. Er ist in
Wirklichkeit ein Sünder, ein Gerechter in Hoffnung, ein Sünder in der That
und Wahrheit, ein Gerechter aber durch die Zurechnung des barmherzigen
Gottes." "*)

Wie wenig Einfluß die Mystik auf das reformatorische Wirken Luthers
gehabt hat, dafür geben die reformatorischen Hauptschriften den Beweis. Es




*") Kostim, a. a, O. S> 149.
*) Kostim, Theologie Luthers Bd. I S, 92.

faltigen Untersuchung unterzogen worden in der Schrift von Hermann
Hering: „Die Mystik Luthers im Zusammenhange seiner Theologie und in
ihrem Verhältniß zur älteren Mystik" (Leipzig, Hinrichs, 1879). Der Verfasser
zeigt uns zuerst Luthers Zusammenhang mit der romanischen Mystik. Die
Urkunden desselben sind die Glossen zum Psalter von 1513 und die Vor¬
lesungen über den Psalter aus den Jahren 1513 bis 1515. Bernhard von
Clairvaux, die mystisch gerichteten Scholastiker Hugo von Se. Viktor und
Bonaventura, vor allem aber die Schriften Augustins sind es, deren Spuren
wir in diesen Anfängen der literarischen Thätigkeit Luthers wahrnehmend)
Und wie wir 'es nicht anders erwarten können, steht hier Luther ganz auf dem
Boden der mittelalterlichen Kirche.

Im Jahre 1515 sehen wir ihn den Boden der deutschen Mystik betreten.
Es ist die „Deutsche Theologie", die er 1516 in Bruchstücken, 1518 vollständig
herausgab, und die er als Auszug aus den Predigten Taulers bezeichnete, es
sind dann die Schriften Taulers selbst, unter deren Einfluß er sich stellte.
Luther hat aufs anerkennendste über diese mystische Theologie geurtheilt.
Und wie sehr er in den Jdeengang derselben eingedrungen ist, davon hat uns
Hering reichliche Belege gegeben. Was Luther zu der germanischen Mystik
hinzog, das war ohne Zweifel theils die sie auszeichnende Intensität unmittel¬
barster Frömmigkeit, theils ihr freier und kühner und doch schlichter und in
edelstem Sinne einfältiger, aller spitzfindigen und künstlichen Wege der Scho¬
lastik sich entschlagender Gedankenflug. Luther ist ihren Bahnen gefolgt, aber
immer nur bis zu einer bestimmten Grenze. Er ist dicht an die Schwelle
ihrer pantheistischen Spekulationen herangetreten, aber er hat sie nicht über¬
schritten. Und daß er dies nicht gethan hat, das dankte er — wenigstens ist
dies sehr wahrscheinlich — dem Einflüsse, den vorher die nüchternere romanische
Mystik auf ihn ausgeübt hatte. Was ihn aber zum Reformator gemacht hat,
das war weder das Werk dieser noch jener, es war seine eigenste That.

Als erste Aeußerung seines evangelisch-protestantischen Sinnes betrachten
wir die deutliche, in dieser Deutlichkeit wohl erste Bezeugung der evangelischen
Rechtfertigungslehre aus dem Jahre 1516: „Ein jeder Heilige bleibt fürs eigene
Bewußtsein ein Sünder; ein Gerechter ist er, ohne es zu wissen. Er ist in
Wirklichkeit ein Sünder, ein Gerechter in Hoffnung, ein Sünder in der That
und Wahrheit, ein Gerechter aber durch die Zurechnung des barmherzigen
Gottes." "*)

Wie wenig Einfluß die Mystik auf das reformatorische Wirken Luthers
gehabt hat, dafür geben die reformatorischen Hauptschriften den Beweis. Es




*") Kostim, a. a, O. S> 149.
*) Kostim, Theologie Luthers Bd. I S, 92.
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[0142] faltigen Untersuchung unterzogen worden in der Schrift von Hermann Hering: „Die Mystik Luthers im Zusammenhange seiner Theologie und in ihrem Verhältniß zur älteren Mystik" (Leipzig, Hinrichs, 1879). Der Verfasser zeigt uns zuerst Luthers Zusammenhang mit der romanischen Mystik. Die Urkunden desselben sind die Glossen zum Psalter von 1513 und die Vor¬ lesungen über den Psalter aus den Jahren 1513 bis 1515. Bernhard von Clairvaux, die mystisch gerichteten Scholastiker Hugo von Se. Viktor und Bonaventura, vor allem aber die Schriften Augustins sind es, deren Spuren wir in diesen Anfängen der literarischen Thätigkeit Luthers wahrnehmend) Und wie wir 'es nicht anders erwarten können, steht hier Luther ganz auf dem Boden der mittelalterlichen Kirche. Im Jahre 1515 sehen wir ihn den Boden der deutschen Mystik betreten. Es ist die „Deutsche Theologie", die er 1516 in Bruchstücken, 1518 vollständig herausgab, und die er als Auszug aus den Predigten Taulers bezeichnete, es sind dann die Schriften Taulers selbst, unter deren Einfluß er sich stellte. Luther hat aufs anerkennendste über diese mystische Theologie geurtheilt. Und wie sehr er in den Jdeengang derselben eingedrungen ist, davon hat uns Hering reichliche Belege gegeben. Was Luther zu der germanischen Mystik hinzog, das war ohne Zweifel theils die sie auszeichnende Intensität unmittel¬ barster Frömmigkeit, theils ihr freier und kühner und doch schlichter und in edelstem Sinne einfältiger, aller spitzfindigen und künstlichen Wege der Scho¬ lastik sich entschlagender Gedankenflug. Luther ist ihren Bahnen gefolgt, aber immer nur bis zu einer bestimmten Grenze. Er ist dicht an die Schwelle ihrer pantheistischen Spekulationen herangetreten, aber er hat sie nicht über¬ schritten. Und daß er dies nicht gethan hat, das dankte er — wenigstens ist dies sehr wahrscheinlich — dem Einflüsse, den vorher die nüchternere romanische Mystik auf ihn ausgeübt hatte. Was ihn aber zum Reformator gemacht hat, das war weder das Werk dieser noch jener, es war seine eigenste That. Als erste Aeußerung seines evangelisch-protestantischen Sinnes betrachten wir die deutliche, in dieser Deutlichkeit wohl erste Bezeugung der evangelischen Rechtfertigungslehre aus dem Jahre 1516: „Ein jeder Heilige bleibt fürs eigene Bewußtsein ein Sünder; ein Gerechter ist er, ohne es zu wissen. Er ist in Wirklichkeit ein Sünder, ein Gerechter in Hoffnung, ein Sünder in der That und Wahrheit, ein Gerechter aber durch die Zurechnung des barmherzigen Gottes." "*) Wie wenig Einfluß die Mystik auf das reformatorische Wirken Luthers gehabt hat, dafür geben die reformatorischen Hauptschriften den Beweis. Es *") Kostim, a. a, O. S> 149. *) Kostim, Theologie Luthers Bd. I S, 92.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/142>, abgerufen am 03.07.2024.