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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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sein. Die Ruhe kehrt wieder, nicht etwa, wenn Alle zu demselben Ideale theo¬
retisch bekehrt sind, sondern wenn ein praktisch förderlicher Zustand irgendwie
sich wiederum herausgebildet hat. Der Streit der Ideale dauert dann noch
sort, aber ohne Erschütterung, weil er die große Mehrheit in allen Volksklassen
gleich giltig läßt.

Seit fünfzehn Jahren befindet sich Deutschland in einem ununterbrochenen
wunderbaren Fortschritt, der von den Träumen alter Sehnsucht eiuen nach
dem andern verwirklicht. Je mehr wir vorwärts kommen, destomehr gewahren
wir allerdings, wie groß die Strecke ist, die wir zurückzulegen haben, um zu
einem relativ abgeschlossenen Zustande mit ruhigem Beharren zu gelangen.
Aber in allen Theilen des Volkes ist das Vertrauen zu dem Manne, der es
bisher auf diesem schwierigen Wege so meisterhaft und so schnell geführt hat,
gewachsen, das Interesse an den Aerzten, die aus der Theorie heraus kuriren
wollen, geschwunden. Als der Liberalismus aller Schattirungen zum ersten
Male mit dem Fürsten Bismarck seit 1866 sich überwarf, weil der Kanzler gegen
die Theorie des Freihandels und gegen die Theorie des parlamentarischen
Staates mit seinen neuerlichen Maßregeln sündigte, da hat das Volk, und
zwar in allen Theilen Deutschlands, in der Mehrheit sich nicht auf die Seite
des Liberalismus geschlagen. Dies und nichts anderes bedeuten auch jetzt die
letzten preußischen Wahlen. Man hat konservative Männer in großer Zahl
gewählt, damit sie dem Fürsten Bismarck folgen, aber nicht im geringsten zu
dem Zwecke, daß sie ihre konservativen Doktrinen verwirklichen. Der Liberalis¬
mus der verschiedenen Schattirungen hat eine große Zahl seiner Sitze eingebüßt,
weil man in ihm eine Opposition gegen den Fürsten Bismarck sah. Es hat
dem Liberalismus nichts geholfen, daß er das Schreckbild der Reaktion in
allen Farben an alle Wände malte. Das Volk lacht bei der Behauptung, daß
Fürst Bismarck jetzt die Zustände wieder herstellen wolle, deren Zerstörung die
Herkulesarbeit seiner bisherigen Laufbahn gewesen. Man sagt sich: So etwas
erfinden Leute, die sich nicht mehr zu helfen wissen.

Freilich tritt jetzt die alte Wahrheit in ihrer Strenge hervor, daß die Be¬
nutzung des Sieges ebenso mühsam ist wie der Sieg. Die Wahlschlacht ist
gewonnen. Zwar bilden 163 konservative Stimmen noch nicht die Majorität,
aber zu ihnen treten 105 Nationalliberale, meistentheils vom rechten Flügel.
Von ihnen genügen 50 bis 60 Stimmen, die Majorität zu bilden. Auch die
163 Konservativen sind zunächst eine Schaar, aber noch kein Heer; es kommt
darauf an, die Schaar zu organisiren. Alles Weitere aber hängt davon ab, welche
Stellung die Nationalliberalen einnehmen werden. Sie können alles wieder¬
gewinnen, was sie hatten, und noch mehr. Sie haben nie allein die Majorität
des Hauses gebildet und sind jetzt weiter als je von dem Besitze der Mcijo-


sein. Die Ruhe kehrt wieder, nicht etwa, wenn Alle zu demselben Ideale theo¬
retisch bekehrt sind, sondern wenn ein praktisch förderlicher Zustand irgendwie
sich wiederum herausgebildet hat. Der Streit der Ideale dauert dann noch
sort, aber ohne Erschütterung, weil er die große Mehrheit in allen Volksklassen
gleich giltig läßt.

Seit fünfzehn Jahren befindet sich Deutschland in einem ununterbrochenen
wunderbaren Fortschritt, der von den Träumen alter Sehnsucht eiuen nach
dem andern verwirklicht. Je mehr wir vorwärts kommen, destomehr gewahren
wir allerdings, wie groß die Strecke ist, die wir zurückzulegen haben, um zu
einem relativ abgeschlossenen Zustande mit ruhigem Beharren zu gelangen.
Aber in allen Theilen des Volkes ist das Vertrauen zu dem Manne, der es
bisher auf diesem schwierigen Wege so meisterhaft und so schnell geführt hat,
gewachsen, das Interesse an den Aerzten, die aus der Theorie heraus kuriren
wollen, geschwunden. Als der Liberalismus aller Schattirungen zum ersten
Male mit dem Fürsten Bismarck seit 1866 sich überwarf, weil der Kanzler gegen
die Theorie des Freihandels und gegen die Theorie des parlamentarischen
Staates mit seinen neuerlichen Maßregeln sündigte, da hat das Volk, und
zwar in allen Theilen Deutschlands, in der Mehrheit sich nicht auf die Seite
des Liberalismus geschlagen. Dies und nichts anderes bedeuten auch jetzt die
letzten preußischen Wahlen. Man hat konservative Männer in großer Zahl
gewählt, damit sie dem Fürsten Bismarck folgen, aber nicht im geringsten zu
dem Zwecke, daß sie ihre konservativen Doktrinen verwirklichen. Der Liberalis¬
mus der verschiedenen Schattirungen hat eine große Zahl seiner Sitze eingebüßt,
weil man in ihm eine Opposition gegen den Fürsten Bismarck sah. Es hat
dem Liberalismus nichts geholfen, daß er das Schreckbild der Reaktion in
allen Farben an alle Wände malte. Das Volk lacht bei der Behauptung, daß
Fürst Bismarck jetzt die Zustände wieder herstellen wolle, deren Zerstörung die
Herkulesarbeit seiner bisherigen Laufbahn gewesen. Man sagt sich: So etwas
erfinden Leute, die sich nicht mehr zu helfen wissen.

Freilich tritt jetzt die alte Wahrheit in ihrer Strenge hervor, daß die Be¬
nutzung des Sieges ebenso mühsam ist wie der Sieg. Die Wahlschlacht ist
gewonnen. Zwar bilden 163 konservative Stimmen noch nicht die Majorität,
aber zu ihnen treten 105 Nationalliberale, meistentheils vom rechten Flügel.
Von ihnen genügen 50 bis 60 Stimmen, die Majorität zu bilden. Auch die
163 Konservativen sind zunächst eine Schaar, aber noch kein Heer; es kommt
darauf an, die Schaar zu organisiren. Alles Weitere aber hängt davon ab, welche
Stellung die Nationalliberalen einnehmen werden. Sie können alles wieder¬
gewinnen, was sie hatten, und noch mehr. Sie haben nie allein die Majorität
des Hauses gebildet und sind jetzt weiter als je von dem Besitze der Mcijo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/131>, abgerufen am 23.07.2024.