Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.Verstimmung wurde durch die vorsichtigen Reformen Alexanders II. viel eher Otto Kaemmel. Verstimmung wurde durch die vorsichtigen Reformen Alexanders II. viel eher Otto Kaemmel. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0552" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143049"/> <p xml:id="ID_1649" prev="#ID_1648"> Verstimmung wurde durch die vorsichtigen Reformen Alexanders II. viel eher<lb/> gesteigert als beschwichtigt. Denn war bis dahin das russische System un¬<lb/> leugbar ein streng einheitliches gewesen, so kam mit diesen Reformen ein ge¬<lb/> wisser Widerspruch hinein. Die Landgemeinden, die Städte und Gouvernements<lb/> wurden durch selbstgewählte Behörden oder wenigstens unter Mitwirkung solcher<lb/> regiert, die Zentralverwaltung blieb absolutistisch, das Beamtenthum allmächtig,<lb/> oft willkürlich und bestechlich, wie es gewesen war. Einen solchen Widerspruch<lb/> verträgt auf die Dauer kein Volk. Wie und wann er zu lösen sei, das ist eine<lb/> andere Frage. Eine Rückkehr zum alten, reinen Absolutismus scheint schlechter¬<lb/> dings undenkbar. Ob die abendländische konstitutionelle Schablone die allhei¬<lb/> lende Medizin ist, läßt sich freilich ebenso bezweifeln. Sie hat ihre Unbrauch-<lb/> barkeit bei halbzivilisirten Völkern mehr als einmal unwiderleglich erwiesen.<lb/> Jedenfalls wird sich kein Fortschritt im russischen Staatsleben vollziehen, ohne<lb/> daß die Elemente, welche eine kräftige Selbstverwaltung zu tragen fähig sind,<lb/> zuvor sich bilden. Das aber ist die Aufgabe der russischen Gesellschaft allein.<lb/> Die Regierung kann nur die Formen schaffen, in denen sie sich zu bewegen<lb/> hat, nicht den Geist, der sie belebt. Auch hier gilt das Wort Wilhelm Pepe's:<lb/> „Die Menschen sind die Zeiten." Jeder muß bei den „Reformen" mit sich<lb/> selber anfangen. Mögen erst die dazu berufenen zeigen, daß sie den Pflichten<lb/> der Selbstverwaltung in Kreis und Gemeinde gewachsen sind. Das ist recht<lb/> eigentlich eine persönliche Sache jedes Einzelnen. Man mag dabei in Rußland<lb/> auch nicht vergessen, daß fremde Vorbilder nur bis zu einem gewissen Grade<lb/> nachgeahmt werden können, daß seine politischen Formen jedes Volk für sich<lb/> selber finden muß. Wenn in Deutschland die inbrünstige Verehrung des fran¬<lb/> zösischen oder englischen Staatsideals vielfach nur verwirrend gewirkt hat und<lb/> die eigenthümliche Struktur der deutschen Gesellschaft dabei nur zu oft vernach¬<lb/> lässigt worden ist, die denn doch den benachbarten Kulturvölkern ungleich<lb/> näher steht, um wieviel weniger ist es für dies halborientalische Rußland mög¬<lb/> lich, abendländischen Mustern unbedingt zu folgen. Nicht französisch, nicht<lb/> englisch soll die russische Reformpartei sein, sondern gut russisch schlechtweg, wem<lb/> auch nicht in dem Sinne, daß sie jedem Einfluß Westeuropas sich entgegenstemmt,<lb/> daß sie die deutschen Elemente des Reiches, die es so nothwendig brauchte wie<lb/> das tägliche Brod, von sich stößt oder zu russifiziren trachtet. An der Lebens¬<lb/> fähigkeit des russischen Reiches und Volkes zu verzweifeln liegt wahrhaftig kein<lb/> Grund vor.</p><lb/> <note type="byline"> Otto Kaemmel.</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0552]
Verstimmung wurde durch die vorsichtigen Reformen Alexanders II. viel eher
gesteigert als beschwichtigt. Denn war bis dahin das russische System un¬
leugbar ein streng einheitliches gewesen, so kam mit diesen Reformen ein ge¬
wisser Widerspruch hinein. Die Landgemeinden, die Städte und Gouvernements
wurden durch selbstgewählte Behörden oder wenigstens unter Mitwirkung solcher
regiert, die Zentralverwaltung blieb absolutistisch, das Beamtenthum allmächtig,
oft willkürlich und bestechlich, wie es gewesen war. Einen solchen Widerspruch
verträgt auf die Dauer kein Volk. Wie und wann er zu lösen sei, das ist eine
andere Frage. Eine Rückkehr zum alten, reinen Absolutismus scheint schlechter¬
dings undenkbar. Ob die abendländische konstitutionelle Schablone die allhei¬
lende Medizin ist, läßt sich freilich ebenso bezweifeln. Sie hat ihre Unbrauch-
barkeit bei halbzivilisirten Völkern mehr als einmal unwiderleglich erwiesen.
Jedenfalls wird sich kein Fortschritt im russischen Staatsleben vollziehen, ohne
daß die Elemente, welche eine kräftige Selbstverwaltung zu tragen fähig sind,
zuvor sich bilden. Das aber ist die Aufgabe der russischen Gesellschaft allein.
Die Regierung kann nur die Formen schaffen, in denen sie sich zu bewegen
hat, nicht den Geist, der sie belebt. Auch hier gilt das Wort Wilhelm Pepe's:
„Die Menschen sind die Zeiten." Jeder muß bei den „Reformen" mit sich
selber anfangen. Mögen erst die dazu berufenen zeigen, daß sie den Pflichten
der Selbstverwaltung in Kreis und Gemeinde gewachsen sind. Das ist recht
eigentlich eine persönliche Sache jedes Einzelnen. Man mag dabei in Rußland
auch nicht vergessen, daß fremde Vorbilder nur bis zu einem gewissen Grade
nachgeahmt werden können, daß seine politischen Formen jedes Volk für sich
selber finden muß. Wenn in Deutschland die inbrünstige Verehrung des fran¬
zösischen oder englischen Staatsideals vielfach nur verwirrend gewirkt hat und
die eigenthümliche Struktur der deutschen Gesellschaft dabei nur zu oft vernach¬
lässigt worden ist, die denn doch den benachbarten Kulturvölkern ungleich
näher steht, um wieviel weniger ist es für dies halborientalische Rußland mög¬
lich, abendländischen Mustern unbedingt zu folgen. Nicht französisch, nicht
englisch soll die russische Reformpartei sein, sondern gut russisch schlechtweg, wem
auch nicht in dem Sinne, daß sie jedem Einfluß Westeuropas sich entgegenstemmt,
daß sie die deutschen Elemente des Reiches, die es so nothwendig brauchte wie
das tägliche Brod, von sich stößt oder zu russifiziren trachtet. An der Lebens¬
fähigkeit des russischen Reiches und Volkes zu verzweifeln liegt wahrhaftig kein
Grund vor.
Otto Kaemmel.
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