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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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mit seinen dispciraten Elementen, die nur durch die zarische Machtvollkommen¬
heit zusammengehalten werden. Heutzutage würde die konstitutionelle Monarchie
für die Macht Rußlands ebenso verhängnißvoll werden wie die Republik." Auf
die eigentlichen fanatischen Nihilisten wirkt irgend welche Konzession ganz sicher
nicht. Hat eine weitgehende Nachsicht der Regierung dem Nihilismus Vor¬
schub geleistet, so kann nur Strenge helfen, und da gegenwärtig noch die Masse
des russischen Volkes von dieser moralischen Pest ganz unberührt ist, so "wird die
Regierung jederzeit mit dem Nihilismus fertig, wenn sie den ernsten Willen
hat, mit ihm fertig zu werden, und entschlossen ist, dazu die geeigneten wirk¬
samen Mittel zu ergreifen."

Gewiß muß die nihilistische Propaganda unschädlich gemacht, müssen diese
Mordbuben gezüchtigt werdeu. Daß sie nicht zu bekehren sind, daß sie auch
mit den weitherzigsten Konzessionen nicht befriedigt werden können, weiß jeder,
der nihilistische Schriften gelesen hat. Aber mit einer RePression ist erst die
halbe Arbeit gethan, ja kaum die halbe.

Der Nihilismus ist eine Entwickelungskrankheit speziell des russischen
Volkes, ein Moment, ein freilich sehr widerwärtiges Moment in dem großen
und langen Prozeß der Assimilation des russischen Reiches an die westeuro¬
päische Bildung, der seit Jahrhunderten im Gange ist, daher unbekannt in den
polnischen wie in den baltischen Provinzen. Diesen Prozeß begleiten unver¬
meidlich schwere Kämpfe und Krämpfe. Denn das russische Volk ist kein abend¬
ländisches, und deshalb fehlen ihm wichtige soziale und politische Voraussetzungen,
welche die westeuropäischen Kulturvölker besitzen. Was der russische Staat und
die russische Gesellschaft sind, das sind sie geworden lediglich durch den Abso¬
lutismus der Zare von Moskau und Se. Petersburg. Ihm gegenüber haben
sich kräftige, auf eignen Füßen stehende Stände nicht bilden können. Es gibt
keinen unabhängigen Adel, kein wirkliches Bürgerthum. Auf diesen Elementen
aber beruht die ganze westeuropäische Staateueutwickelung mit ihren Volksver¬
tretungen und ihrer Selbstverwaltung. So lange das russische Volk abge¬
schlossen dahin lebte, konnten die modernen Staatsideen keinen Einfluß ge¬
winnen. Sobald diese Abschließung aufhörte, mußten sie auch die gebildete
Gesellschaft in Rußland ergreifen, nicht die Massen. Lebhaft und starken Ein¬
drücken überaus zugänglich, wie die Russen sind, machten sie rasch die west¬
europäischen Zustände zu ihrem Ideal, wobei französische und englische Vor¬
bilder bunt durcheinander gingen. Sie übersahen dabei, daß für die Verwirk¬
lichung solcher Einrichtungen in Rußland so ziemlich alle Voraussetzungen
fehlten. Da die Regierung nicht sofort in dies "liberale" Fahrwasser steuerte,
so entstand eine tiefgehende Verstimmung der Gebildeten, ohne daß diese die
Fähigkeit besessen hätten, nach abendländischen Ordnungen zu leben. Diese


Grnizbotcn III. 1879. 70

mit seinen dispciraten Elementen, die nur durch die zarische Machtvollkommen¬
heit zusammengehalten werden. Heutzutage würde die konstitutionelle Monarchie
für die Macht Rußlands ebenso verhängnißvoll werden wie die Republik." Auf
die eigentlichen fanatischen Nihilisten wirkt irgend welche Konzession ganz sicher
nicht. Hat eine weitgehende Nachsicht der Regierung dem Nihilismus Vor¬
schub geleistet, so kann nur Strenge helfen, und da gegenwärtig noch die Masse
des russischen Volkes von dieser moralischen Pest ganz unberührt ist, so „wird die
Regierung jederzeit mit dem Nihilismus fertig, wenn sie den ernsten Willen
hat, mit ihm fertig zu werden, und entschlossen ist, dazu die geeigneten wirk¬
samen Mittel zu ergreifen."

Gewiß muß die nihilistische Propaganda unschädlich gemacht, müssen diese
Mordbuben gezüchtigt werdeu. Daß sie nicht zu bekehren sind, daß sie auch
mit den weitherzigsten Konzessionen nicht befriedigt werden können, weiß jeder,
der nihilistische Schriften gelesen hat. Aber mit einer RePression ist erst die
halbe Arbeit gethan, ja kaum die halbe.

Der Nihilismus ist eine Entwickelungskrankheit speziell des russischen
Volkes, ein Moment, ein freilich sehr widerwärtiges Moment in dem großen
und langen Prozeß der Assimilation des russischen Reiches an die westeuro¬
päische Bildung, der seit Jahrhunderten im Gange ist, daher unbekannt in den
polnischen wie in den baltischen Provinzen. Diesen Prozeß begleiten unver¬
meidlich schwere Kämpfe und Krämpfe. Denn das russische Volk ist kein abend¬
ländisches, und deshalb fehlen ihm wichtige soziale und politische Voraussetzungen,
welche die westeuropäischen Kulturvölker besitzen. Was der russische Staat und
die russische Gesellschaft sind, das sind sie geworden lediglich durch den Abso¬
lutismus der Zare von Moskau und Se. Petersburg. Ihm gegenüber haben
sich kräftige, auf eignen Füßen stehende Stände nicht bilden können. Es gibt
keinen unabhängigen Adel, kein wirkliches Bürgerthum. Auf diesen Elementen
aber beruht die ganze westeuropäische Staateueutwickelung mit ihren Volksver¬
tretungen und ihrer Selbstverwaltung. So lange das russische Volk abge¬
schlossen dahin lebte, konnten die modernen Staatsideen keinen Einfluß ge¬
winnen. Sobald diese Abschließung aufhörte, mußten sie auch die gebildete
Gesellschaft in Rußland ergreifen, nicht die Massen. Lebhaft und starken Ein¬
drücken überaus zugänglich, wie die Russen sind, machten sie rasch die west¬
europäischen Zustände zu ihrem Ideal, wobei französische und englische Vor¬
bilder bunt durcheinander gingen. Sie übersahen dabei, daß für die Verwirk¬
lichung solcher Einrichtungen in Rußland so ziemlich alle Voraussetzungen
fehlten. Da die Regierung nicht sofort in dies „liberale" Fahrwasser steuerte,
so entstand eine tiefgehende Verstimmung der Gebildeten, ohne daß diese die
Fähigkeit besessen hätten, nach abendländischen Ordnungen zu leben. Diese


Grnizbotcn III. 1879. 70
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[0551] mit seinen dispciraten Elementen, die nur durch die zarische Machtvollkommen¬ heit zusammengehalten werden. Heutzutage würde die konstitutionelle Monarchie für die Macht Rußlands ebenso verhängnißvoll werden wie die Republik." Auf die eigentlichen fanatischen Nihilisten wirkt irgend welche Konzession ganz sicher nicht. Hat eine weitgehende Nachsicht der Regierung dem Nihilismus Vor¬ schub geleistet, so kann nur Strenge helfen, und da gegenwärtig noch die Masse des russischen Volkes von dieser moralischen Pest ganz unberührt ist, so „wird die Regierung jederzeit mit dem Nihilismus fertig, wenn sie den ernsten Willen hat, mit ihm fertig zu werden, und entschlossen ist, dazu die geeigneten wirk¬ samen Mittel zu ergreifen." Gewiß muß die nihilistische Propaganda unschädlich gemacht, müssen diese Mordbuben gezüchtigt werdeu. Daß sie nicht zu bekehren sind, daß sie auch mit den weitherzigsten Konzessionen nicht befriedigt werden können, weiß jeder, der nihilistische Schriften gelesen hat. Aber mit einer RePression ist erst die halbe Arbeit gethan, ja kaum die halbe. Der Nihilismus ist eine Entwickelungskrankheit speziell des russischen Volkes, ein Moment, ein freilich sehr widerwärtiges Moment in dem großen und langen Prozeß der Assimilation des russischen Reiches an die westeuro¬ päische Bildung, der seit Jahrhunderten im Gange ist, daher unbekannt in den polnischen wie in den baltischen Provinzen. Diesen Prozeß begleiten unver¬ meidlich schwere Kämpfe und Krämpfe. Denn das russische Volk ist kein abend¬ ländisches, und deshalb fehlen ihm wichtige soziale und politische Voraussetzungen, welche die westeuropäischen Kulturvölker besitzen. Was der russische Staat und die russische Gesellschaft sind, das sind sie geworden lediglich durch den Abso¬ lutismus der Zare von Moskau und Se. Petersburg. Ihm gegenüber haben sich kräftige, auf eignen Füßen stehende Stände nicht bilden können. Es gibt keinen unabhängigen Adel, kein wirkliches Bürgerthum. Auf diesen Elementen aber beruht die ganze westeuropäische Staateueutwickelung mit ihren Volksver¬ tretungen und ihrer Selbstverwaltung. So lange das russische Volk abge¬ schlossen dahin lebte, konnten die modernen Staatsideen keinen Einfluß ge¬ winnen. Sobald diese Abschließung aufhörte, mußten sie auch die gebildete Gesellschaft in Rußland ergreifen, nicht die Massen. Lebhaft und starken Ein¬ drücken überaus zugänglich, wie die Russen sind, machten sie rasch die west¬ europäischen Zustände zu ihrem Ideal, wobei französische und englische Vor¬ bilder bunt durcheinander gingen. Sie übersahen dabei, daß für die Verwirk¬ lichung solcher Einrichtungen in Rußland so ziemlich alle Voraussetzungen fehlten. Da die Regierung nicht sofort in dies „liberale" Fahrwasser steuerte, so entstand eine tiefgehende Verstimmung der Gebildeten, ohne daß diese die Fähigkeit besessen hätten, nach abendländischen Ordnungen zu leben. Diese Grnizbotcn III. 1879. 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/551>, abgerufen am 27.11.2024.