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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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so die Aufmerksamkeit der studirenden Jugend sich auf politische Agitation, nicht
auf ernstes wissenschaftliches Arbeiten richtete, verloren sehr viele überhaupt die
Kraft dazu und waren schließlich nicht im Stande, den Anforderungen der
Prüfungen zu genügen. Diejenigen aber, welche das nicht konnten, sahen sich,
meist von Hause mittellos und auf Stipendien angewiesen, nach Ablauf der
Fristen, auf die dieselben garantirt waren, ohne Subsistenzmittel und fielen
naturgemäß dem Nihilismus zu, der ja alles Lernen und Wissen für überflüssig
und allem Bestehenden den Krieg erklärte. Gerade diese Elemente gaben mehr
und mehr auf den Universitäten den Ton an, sie verursachten die unaufhörlichen
Studentenkrawalle in Kijew, Charkow, Moskau. Die Masse des Volkes freilich
ist durch alles dies von solcher Erbitterung gegen Studenten und Universitäten
erfüllt, daß ihr "Student" und "Nihilist" fast als identische Begriffe gelten
und in Charkow nach der Ermordung des humanen Gouverneurs Fürst Kra-
potkin (21. Februar d. I.) nur mit äußerster Anstrengung die Zerstörung des
Universitätsgebäudes hat verhindert werden können.

Wenn aber das Treiben der "Studentinnen" und der Geist auf den russischen
Hochschulen immerhin nur gewisse Schichten oder Kreise der Gesellschaft für
die Lehren des Nihilismus empfänglich macht, so droht ein anderes das
Rechtsgefühl im ganzen Volke allmählich zu verderben, das ist die Haltung der
Geschwornengerichte gegenüber angeklagten Nihilisten, ja selbst gemeinen Ver¬
brechern gegenüber. "Unsere Gerichtsverhandlungen," sagt Karlowitsch, "gestalteten
sich oft genug zu theatralischen Aufzügen mit komödiantenhaften Auftritten auf
Seite der Angeklagten, der Vertheidiger und vielfach auch selbst der Staatsan¬
wälte, und mit frenetischen Applausfalven seitens des Publikums. Die Leiter
der Gerichtsverhandlungen zeigen sich dabei oft ebenso unzulänglich wie die
Polizeiorgane."

So wurde Wjera Sassulitsch, wie schon erwähnt, trotz ihres Geständnisses
klagfrei gesprochen, unter dem Beifall der Presse, der Zuhörer und weiter
Kreise der Gesellschaft, wie denn eine vornehme Dame in großer Gesellschaft
vor ihrer Tochter damals sagte: "Wjera Sassulitsch ist eine große Citoyenne;
wie glücklich würde ich mich preisen, wenn meine Tochter gleiches vollführt hätte!"
In dem großen Prozeß der 193 Nihilisten, der sich im November 1877 vor
dem Petersburger Schwurgericht abspielte, konnte einer der Angeklagten, Myschkin,
durch Deklamationen und ausweichende Redensarten Stunden lang das Gericht
herumzerren, ohne daß man die Energie gehabt hätte, solchem Mißbrauch ein
Ziel zu setzen. Aber auch bei nicht gerade nihilistischen Prozessen zeigte sich
eine Gleichgiltigkeit gegen Recht und Sitte, die um so befremdender wirkt, als
hier eben keinerlei politische Antipathie und Sympathie ins Spiel kamen wie
bei jenen. So war im März 1878 zu Ssaratow ein junges Mädchen ange-


so die Aufmerksamkeit der studirenden Jugend sich auf politische Agitation, nicht
auf ernstes wissenschaftliches Arbeiten richtete, verloren sehr viele überhaupt die
Kraft dazu und waren schließlich nicht im Stande, den Anforderungen der
Prüfungen zu genügen. Diejenigen aber, welche das nicht konnten, sahen sich,
meist von Hause mittellos und auf Stipendien angewiesen, nach Ablauf der
Fristen, auf die dieselben garantirt waren, ohne Subsistenzmittel und fielen
naturgemäß dem Nihilismus zu, der ja alles Lernen und Wissen für überflüssig
und allem Bestehenden den Krieg erklärte. Gerade diese Elemente gaben mehr
und mehr auf den Universitäten den Ton an, sie verursachten die unaufhörlichen
Studentenkrawalle in Kijew, Charkow, Moskau. Die Masse des Volkes freilich
ist durch alles dies von solcher Erbitterung gegen Studenten und Universitäten
erfüllt, daß ihr „Student" und „Nihilist" fast als identische Begriffe gelten
und in Charkow nach der Ermordung des humanen Gouverneurs Fürst Kra-
potkin (21. Februar d. I.) nur mit äußerster Anstrengung die Zerstörung des
Universitätsgebäudes hat verhindert werden können.

Wenn aber das Treiben der „Studentinnen" und der Geist auf den russischen
Hochschulen immerhin nur gewisse Schichten oder Kreise der Gesellschaft für
die Lehren des Nihilismus empfänglich macht, so droht ein anderes das
Rechtsgefühl im ganzen Volke allmählich zu verderben, das ist die Haltung der
Geschwornengerichte gegenüber angeklagten Nihilisten, ja selbst gemeinen Ver¬
brechern gegenüber. „Unsere Gerichtsverhandlungen," sagt Karlowitsch, „gestalteten
sich oft genug zu theatralischen Aufzügen mit komödiantenhaften Auftritten auf
Seite der Angeklagten, der Vertheidiger und vielfach auch selbst der Staatsan¬
wälte, und mit frenetischen Applausfalven seitens des Publikums. Die Leiter
der Gerichtsverhandlungen zeigen sich dabei oft ebenso unzulänglich wie die
Polizeiorgane."

So wurde Wjera Sassulitsch, wie schon erwähnt, trotz ihres Geständnisses
klagfrei gesprochen, unter dem Beifall der Presse, der Zuhörer und weiter
Kreise der Gesellschaft, wie denn eine vornehme Dame in großer Gesellschaft
vor ihrer Tochter damals sagte: „Wjera Sassulitsch ist eine große Citoyenne;
wie glücklich würde ich mich preisen, wenn meine Tochter gleiches vollführt hätte!"
In dem großen Prozeß der 193 Nihilisten, der sich im November 1877 vor
dem Petersburger Schwurgericht abspielte, konnte einer der Angeklagten, Myschkin,
durch Deklamationen und ausweichende Redensarten Stunden lang das Gericht
herumzerren, ohne daß man die Energie gehabt hätte, solchem Mißbrauch ein
Ziel zu setzen. Aber auch bei nicht gerade nihilistischen Prozessen zeigte sich
eine Gleichgiltigkeit gegen Recht und Sitte, die um so befremdender wirkt, als
hier eben keinerlei politische Antipathie und Sympathie ins Spiel kamen wie
bei jenen. So war im März 1878 zu Ssaratow ein junges Mädchen ange-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/549>, abgerufen am 27.11.2024.