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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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hat nichts so sehr die Nihilisten gefördert als die Stellung der russischen
Frauen. Bei dem im allgemeinen geringen Wohlstande, der in Rußland vor¬
handen ist, sieht sich die Frau gezwungen, sich möglichst auf eigne Füße zu
stellen, und das Gesetz begünstigt dies dadurch, daß es der Frau gegenüber
dem Manne, der Mutter gegenüber den Kindern eine größere Selbständigkeit
in der Verfügung über ihr besonderes Vermögen einräumt als anderwärts.
Diesem Triebe nach Emanzipation kamen die nihilistischen Lehren entgegen.
Sie predigten die Gleichheit von Mann und Weib, verwarfen jede Beschrän¬
kung der Frau auf ihren Beruf in der Familie als "unzeitgemäß". Daher
jener Zudrang junger Russinnen zu den akademischen Fächern, namentlich zum
Studium der Medizin. Zu welchen widerwärtigen Erscheinungen, zu wie scham¬
loser Verleugnung jedes weiblichen Gefühls dies z. B. bei vielen "Studen¬
tinnen" der Universität Zürich, wo die "freie" Schweiz den Unfug gestattete,
notorisch geführt hat, ist allbekannt. Erst die Forderung der russischen Regie¬
rung, diese "Damen" von Zürich zu entfernen, machte im Jahre 1873 dem
Skandal ein Ende. Aber freilich nicht der Ausbreitung des Nihilismus unter
dem weiblichen Geschlechte. Viele Eltern hielten es eben für "zeitgemäß", ihren
Kindern möglichst freie Hand zu lassen, sie schwärmten wohl selbst, weil es
eben Mode war, für einen sozialistischen Heiligen, wie z. B. eine vornehme
Dame in Petersburg einmal sagte: "Ich segne meinen Sohn im Namen
Lasalles", ohne jemals nur eine Zeile von den Schriften des Agitators gelesen
zu haben, und wenn nun vollends etwa eine nihilistisch gesinnte Gouvernante
sich Einlaß verschaffte, dann war das Verderben nicht mehr aufzuhalten,
^all -v? naroä, "unter das Volk zu gehen", das war schließlich das Ideal
vieler Mädchen besserer Stände. Die Laufbahn einer solchen Unglücklichen
haben vor kurzem diese Blätter geschildert. Aus solchen Kreisen ging Wjera
Sassulitsch hervor, die auf General Trepow den Mordanfall machte, und unter
den im März d. I. zu Kijew verhafteten Nihilisten war die Tochter des
Generals v. Gersefeld wie die eines der größten Fabrikbesitzers.

Hinter der weiblichen Jugend der gebildeten Stände blieb aber die männ¬
liche nicht zurück. "Seit 1860 wiederholen sich auf unsern Hochschulen -- mit
Ausnahme des Dorpater Lehrbezirks -- die haarsträubendsten Szenen." Die
studentische Jugend glaubt sich in erster Linie nicht berufen zum Lernen, son¬
dern vielmehr zur politischen Agitation. Freilich haben zu dieser sinnlosen
Selbstüberschätzung wetteifernd viele Professoren und viele Zeitungen beigetragen.
Nach ihnen war "die Jugend" der Kern des Volkes, war alles von ihr zu
erwarten. Das freisinnige Universitätsstatut von 1863, die Abschaffung des
Uniformzwanges für die Studenten, die Gewährung des Vereins- und Ver¬
sammlungsrechts, alles dies lockerte die Disziplin nur noch mehr. Indem aber


hat nichts so sehr die Nihilisten gefördert als die Stellung der russischen
Frauen. Bei dem im allgemeinen geringen Wohlstande, der in Rußland vor¬
handen ist, sieht sich die Frau gezwungen, sich möglichst auf eigne Füße zu
stellen, und das Gesetz begünstigt dies dadurch, daß es der Frau gegenüber
dem Manne, der Mutter gegenüber den Kindern eine größere Selbständigkeit
in der Verfügung über ihr besonderes Vermögen einräumt als anderwärts.
Diesem Triebe nach Emanzipation kamen die nihilistischen Lehren entgegen.
Sie predigten die Gleichheit von Mann und Weib, verwarfen jede Beschrän¬
kung der Frau auf ihren Beruf in der Familie als „unzeitgemäß". Daher
jener Zudrang junger Russinnen zu den akademischen Fächern, namentlich zum
Studium der Medizin. Zu welchen widerwärtigen Erscheinungen, zu wie scham¬
loser Verleugnung jedes weiblichen Gefühls dies z. B. bei vielen „Studen¬
tinnen" der Universität Zürich, wo die „freie" Schweiz den Unfug gestattete,
notorisch geführt hat, ist allbekannt. Erst die Forderung der russischen Regie¬
rung, diese „Damen" von Zürich zu entfernen, machte im Jahre 1873 dem
Skandal ein Ende. Aber freilich nicht der Ausbreitung des Nihilismus unter
dem weiblichen Geschlechte. Viele Eltern hielten es eben für „zeitgemäß", ihren
Kindern möglichst freie Hand zu lassen, sie schwärmten wohl selbst, weil es
eben Mode war, für einen sozialistischen Heiligen, wie z. B. eine vornehme
Dame in Petersburg einmal sagte: „Ich segne meinen Sohn im Namen
Lasalles", ohne jemals nur eine Zeile von den Schriften des Agitators gelesen
zu haben, und wenn nun vollends etwa eine nihilistisch gesinnte Gouvernante
sich Einlaß verschaffte, dann war das Verderben nicht mehr aufzuhalten,
^all -v? naroä, „unter das Volk zu gehen", das war schließlich das Ideal
vieler Mädchen besserer Stände. Die Laufbahn einer solchen Unglücklichen
haben vor kurzem diese Blätter geschildert. Aus solchen Kreisen ging Wjera
Sassulitsch hervor, die auf General Trepow den Mordanfall machte, und unter
den im März d. I. zu Kijew verhafteten Nihilisten war die Tochter des
Generals v. Gersefeld wie die eines der größten Fabrikbesitzers.

Hinter der weiblichen Jugend der gebildeten Stände blieb aber die männ¬
liche nicht zurück. „Seit 1860 wiederholen sich auf unsern Hochschulen — mit
Ausnahme des Dorpater Lehrbezirks — die haarsträubendsten Szenen." Die
studentische Jugend glaubt sich in erster Linie nicht berufen zum Lernen, son¬
dern vielmehr zur politischen Agitation. Freilich haben zu dieser sinnlosen
Selbstüberschätzung wetteifernd viele Professoren und viele Zeitungen beigetragen.
Nach ihnen war „die Jugend" der Kern des Volkes, war alles von ihr zu
erwarten. Das freisinnige Universitätsstatut von 1863, die Abschaffung des
Uniformzwanges für die Studenten, die Gewährung des Vereins- und Ver¬
sammlungsrechts, alles dies lockerte die Disziplin nur noch mehr. Indem aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/548>, abgerufen am 01.09.2024.