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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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tionellen Geistes der Gesellschaft ist, deshalb hat er bei eben dieser Gesellschaft
so feste Wurzeln geschlagen, nicht bei der Masse des Volkes, das trotz unauf¬
hörlicher Agitation sich völlig gleichgiltig verhält oder seine Theilnahme höch¬
stens darin zeigt, daß es die nihilistischen Emissäre ausliefert. Daher denn
auch die sonst unbegreifliche Wirkung, welche ein ebenso künstlerisch werthloses
wie sittlich ruchloses Machwerk, Tschernyschewskis nihilistischer Roman "Was
thun?" auf viele Gebildeten ausübte, eine Machwerk, das "mit raffinirter
Sorgsamkeit das Gewissen und den Begriff der Pflicht vollständig ausmerzt",
mit unsäglicher Stumpfheit des sittlichen Gefühls als "Normalmenschen" Leute
vorführt, die kaum noch Anspruch auf die Bezeichnung "Mensch" erheben
können.

Einzelne Umstände haben nnn das Umsichgreifen des Nihilismus unter
den "Gebildeten" durch Erregung heftiger Unzufriedenheit mächtig gefördert.
Vor allem trägt das russische Erziehungssystem einen bedeutenden Theil der
Schuld. Noch im Anfange der Regierung Alexanders II. berichte das ganze
höhere Unterrichtswesen in Rußland auf der klassischen Bildung. Sie hatte,
obwohl in den antiken Sprachen niemals annähernd soviel geleistet worden ist
wie in Deutschland, mit Ausnahme etwa des Dorpater Lehrbezirks d. h. der
deutschen Ostseeprovinzen, doch unleugbar das Gute, daß die jungen Leute
wenigstens ordentlich arbeiten lernten, und der sehr verbreiteten Neigung junger
Russen, sich sofort neue, selbständige, wenn auch noch so unreife Anschauungen
oder gar Systeme zu bilden, entgegenzuarbeiten. Nun ist es allerdings be¬
greiflich, wenn diese klassische Bildung in Rußland von sehr vielen als für die
russische Jugend nicht "passend" erachtet wurde, denn in der That sind ja die
Beziehungen Rußlands zu dem Erbe des klassischen Alterthums viel losere als
in Mittel- und Westeuropa, da die mittelalterliche Entwickelung des Volkes
gar nicht unter dem Einflüsse der römischen Kirche, also auch nicht der antiken
Bildung, die sie dem Abendlande vermittelte, gestanden hat. Nichtsdestoweniger
konnte es doch nach der Ansicht unseres Autors nichts unglückseligeres geben
als daß der Unterrichtsminister Golownin dem realistischen Prinzip einen breiten
Zugang in die russischen höheren Schulen eröffnete und das humanistische fast
ganz in den Hintergrund drängte. Denn gerade die ganze Richtung der moder¬
nen Naturwissenschaft, die im Kampfe mit altüberlieferten Autoritäten heran¬
gewachsen ist und nichts respektirt als das Erwiesene und Erweisbare, dabei
aber eine Menge Hypothesen aufstellt, die für den Fortschritt der Erkenntniß
zwar nothwendig sind, häufig genug jedoch von Unberufenen popularisirt und
als unumstößliche Wahrheiten ausgegeben werden, nicht minder der materiali¬
stische Geist, der unleugbar in weiten Kreisen der Naturwissenschafter herrscht,
mußte der ohnehin vorhandenen Neigung der russischen Jugend, sich gegen jede


tionellen Geistes der Gesellschaft ist, deshalb hat er bei eben dieser Gesellschaft
so feste Wurzeln geschlagen, nicht bei der Masse des Volkes, das trotz unauf¬
hörlicher Agitation sich völlig gleichgiltig verhält oder seine Theilnahme höch¬
stens darin zeigt, daß es die nihilistischen Emissäre ausliefert. Daher denn
auch die sonst unbegreifliche Wirkung, welche ein ebenso künstlerisch werthloses
wie sittlich ruchloses Machwerk, Tschernyschewskis nihilistischer Roman „Was
thun?" auf viele Gebildeten ausübte, eine Machwerk, das „mit raffinirter
Sorgsamkeit das Gewissen und den Begriff der Pflicht vollständig ausmerzt",
mit unsäglicher Stumpfheit des sittlichen Gefühls als „Normalmenschen" Leute
vorführt, die kaum noch Anspruch auf die Bezeichnung „Mensch" erheben
können.

Einzelne Umstände haben nnn das Umsichgreifen des Nihilismus unter
den „Gebildeten" durch Erregung heftiger Unzufriedenheit mächtig gefördert.
Vor allem trägt das russische Erziehungssystem einen bedeutenden Theil der
Schuld. Noch im Anfange der Regierung Alexanders II. berichte das ganze
höhere Unterrichtswesen in Rußland auf der klassischen Bildung. Sie hatte,
obwohl in den antiken Sprachen niemals annähernd soviel geleistet worden ist
wie in Deutschland, mit Ausnahme etwa des Dorpater Lehrbezirks d. h. der
deutschen Ostseeprovinzen, doch unleugbar das Gute, daß die jungen Leute
wenigstens ordentlich arbeiten lernten, und der sehr verbreiteten Neigung junger
Russen, sich sofort neue, selbständige, wenn auch noch so unreife Anschauungen
oder gar Systeme zu bilden, entgegenzuarbeiten. Nun ist es allerdings be¬
greiflich, wenn diese klassische Bildung in Rußland von sehr vielen als für die
russische Jugend nicht „passend" erachtet wurde, denn in der That sind ja die
Beziehungen Rußlands zu dem Erbe des klassischen Alterthums viel losere als
in Mittel- und Westeuropa, da die mittelalterliche Entwickelung des Volkes
gar nicht unter dem Einflüsse der römischen Kirche, also auch nicht der antiken
Bildung, die sie dem Abendlande vermittelte, gestanden hat. Nichtsdestoweniger
konnte es doch nach der Ansicht unseres Autors nichts unglückseligeres geben
als daß der Unterrichtsminister Golownin dem realistischen Prinzip einen breiten
Zugang in die russischen höheren Schulen eröffnete und das humanistische fast
ganz in den Hintergrund drängte. Denn gerade die ganze Richtung der moder¬
nen Naturwissenschaft, die im Kampfe mit altüberlieferten Autoritäten heran¬
gewachsen ist und nichts respektirt als das Erwiesene und Erweisbare, dabei
aber eine Menge Hypothesen aufstellt, die für den Fortschritt der Erkenntniß
zwar nothwendig sind, häufig genug jedoch von Unberufenen popularisirt und
als unumstößliche Wahrheiten ausgegeben werden, nicht minder der materiali¬
stische Geist, der unleugbar in weiten Kreisen der Naturwissenschafter herrscht,
mußte der ohnehin vorhandenen Neigung der russischen Jugend, sich gegen jede


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/546>, abgerufen am 27.11.2024.