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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Es erklärt sich dies vor allein daraus, daß alles, was für politische Geschäfte
Interesse hat, in die Beamtenhierarchie (Tschin) einzutreten strebt, weil allein
der Staatsdienst Rang und Ansehen verleiht, daß also der Tschin alle tüchtigen
Kräfte absorbirt und für die zeitraubenden und mühsamen Ehrenämter der
Selbstverwaltung keine übrig läßt. Wenn demnach die russische Nation für die
schweren Pflichten, welche jede freiheitliche Verfassung den Staatsbürgern auf¬
erlegt, wenig Sinn und Verständniß gezeigt hat, so kann unmöglich der
Nihilismus aus dem Mangel liberaler Einrichtungen erklärt werden.

Seine Hauptwurzel liegt vielmehr in der Tadelsucht vor allem der Ge¬
bildeten, deren Aeußerungen naturgemäß in erster Linie die Regierung treffen.
Und doch stellt diese Regierung die einzige leistungsfähige Macht in Rußland
dar, ist jede Initiative von ihr ausgegangen und hat die tadelsüchtige Opposition
niemals einen schöpferischen Gedanken zu Tage gefördert. Die Regierung hat
z. B. den Bau der Eisenbahnen, die allein die Hilfsquellen des ungeheuren
Reiches entwickeln können, gegen die öffentliche Meinung begonnen. Diese rein
negative Opposition, der es lediglich darum zu thun ist, zu tadeln, nicht aber
durch den Tadel irgend etwas zu bessern, hat nun im Nihilismus ihre höchste
und konsequenteste Ausbildung gefunden. Denn der Nihilismus ist rein negativ,
er will kurz und gut die Zerstörung aller bestehenden staatlichen, gesellschaft¬
lichen, sittlichen und wirthschaftlichen Ordnung, oder wie Alexander Herzen das
1869 ausgedrückt hat: "die vollkommenste Freiheit von allen fertigen Begriffen,
von allen ererbten Hindernissen und Störungen, welche das Vorwärtsschreiten
des occidentalen Verstandes mit seinem historischen Klotz am Fuß behindert."
Daher sind auch seine Parteigänger von keiner Reform irgendwann befriedigt
worden, vielmehr hat noch jede eine Verschärfung der nihilistischen Tendenzen
zur Folge gehabt. Kaum war z. B. im Jahre 1861 die Aushebung der Leib¬
eigenschaft verkündet, so predigte Herzen die Reorganisation der menschlichen
Gesellschaft auf sozialistischer und kommunistischer Grundlage, und zahlreiche
Brandstiftnngen setzten das Volk in Alarm. In den Jahren 1864 und 1865
verlieh der Kaiser die Geschwornengerichte mit Öffentlichkeit und Mündlichkeit,
für 35 Provinzen die Kommunal- und Kreisstände und Preßfreiheit für Peters¬
burg und Moskau. Die Antwort der Nihilisten war das Attentat Karakosows
(1866). 187? zog der Zar für die Befreiung der türkischen Christen ins Feld
und verdiente sich, indem er so ein populäres Ideal zu verwirklichen strebte,
den ruhmvollen Titel des Zar-Befreiers (Zar Osswoboditelj); der Dank der
Revolutionäre waren die Revolverschüsse Ssolowjews (1879). Kurz, "der
Nihilismus läßt sich eben mit keinen denkbaren Konzessionen beschwichtigen und
befriedigen".

Weil er aber vor allem ein Produkt des allgemein herrschenden opposi-


Es erklärt sich dies vor allein daraus, daß alles, was für politische Geschäfte
Interesse hat, in die Beamtenhierarchie (Tschin) einzutreten strebt, weil allein
der Staatsdienst Rang und Ansehen verleiht, daß also der Tschin alle tüchtigen
Kräfte absorbirt und für die zeitraubenden und mühsamen Ehrenämter der
Selbstverwaltung keine übrig läßt. Wenn demnach die russische Nation für die
schweren Pflichten, welche jede freiheitliche Verfassung den Staatsbürgern auf¬
erlegt, wenig Sinn und Verständniß gezeigt hat, so kann unmöglich der
Nihilismus aus dem Mangel liberaler Einrichtungen erklärt werden.

Seine Hauptwurzel liegt vielmehr in der Tadelsucht vor allem der Ge¬
bildeten, deren Aeußerungen naturgemäß in erster Linie die Regierung treffen.
Und doch stellt diese Regierung die einzige leistungsfähige Macht in Rußland
dar, ist jede Initiative von ihr ausgegangen und hat die tadelsüchtige Opposition
niemals einen schöpferischen Gedanken zu Tage gefördert. Die Regierung hat
z. B. den Bau der Eisenbahnen, die allein die Hilfsquellen des ungeheuren
Reiches entwickeln können, gegen die öffentliche Meinung begonnen. Diese rein
negative Opposition, der es lediglich darum zu thun ist, zu tadeln, nicht aber
durch den Tadel irgend etwas zu bessern, hat nun im Nihilismus ihre höchste
und konsequenteste Ausbildung gefunden. Denn der Nihilismus ist rein negativ,
er will kurz und gut die Zerstörung aller bestehenden staatlichen, gesellschaft¬
lichen, sittlichen und wirthschaftlichen Ordnung, oder wie Alexander Herzen das
1869 ausgedrückt hat: „die vollkommenste Freiheit von allen fertigen Begriffen,
von allen ererbten Hindernissen und Störungen, welche das Vorwärtsschreiten
des occidentalen Verstandes mit seinem historischen Klotz am Fuß behindert."
Daher sind auch seine Parteigänger von keiner Reform irgendwann befriedigt
worden, vielmehr hat noch jede eine Verschärfung der nihilistischen Tendenzen
zur Folge gehabt. Kaum war z. B. im Jahre 1861 die Aushebung der Leib¬
eigenschaft verkündet, so predigte Herzen die Reorganisation der menschlichen
Gesellschaft auf sozialistischer und kommunistischer Grundlage, und zahlreiche
Brandstiftnngen setzten das Volk in Alarm. In den Jahren 1864 und 1865
verlieh der Kaiser die Geschwornengerichte mit Öffentlichkeit und Mündlichkeit,
für 35 Provinzen die Kommunal- und Kreisstände und Preßfreiheit für Peters¬
burg und Moskau. Die Antwort der Nihilisten war das Attentat Karakosows
(1866). 187? zog der Zar für die Befreiung der türkischen Christen ins Feld
und verdiente sich, indem er so ein populäres Ideal zu verwirklichen strebte,
den ruhmvollen Titel des Zar-Befreiers (Zar Osswoboditelj); der Dank der
Revolutionäre waren die Revolverschüsse Ssolowjews (1879). Kurz, „der
Nihilismus läßt sich eben mit keinen denkbaren Konzessionen beschwichtigen und
befriedigen".

Weil er aber vor allem ein Produkt des allgemein herrschenden opposi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/545>, abgerufen am 27.11.2024.