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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Vorschlägen zur Verbesserung der Welt nach allen Richtungen, mit langen
politischen Auseinandersetzungen, die zuweilen sehr komischer Art waren, mit
Gesuchen um Unterstützung durch Geld oder Empfehlung, um Darlehen, um
Anstellungen, um Gutachten, mit Rathschlägen und Anerbietungen zum Ankauf
von Gütern, mit Befürwortungen der verschiedensten Anliegen Dritter, mit
Bitten um Einlösung von Pfandscheinen, mit Manuskripten, für die sich kein
Verleger gefunden, und die dem Fürsten nun zur Veröffentlichung anvertraut
wurden, in steigender Progression zu. Allerhand Manöver wurden dabei an¬
gewendet, um den Reichskanzler zur Eröffnung und zum Lesen dieser Episteln
zu verleiten oder zu nöthigen. Man rekommandirte sie, man vermerkte auf
dem Kouvert: "Eigenhändig zu öffnen" oder: "Wichtiger Inhalt. Bitte, selbst
zu lesen." Man bezog sich auf Empfehlungen von Autoritäten. Andere rich¬
teten ihre Wünsche an den Geheimen Legationsrath Bucher und mutheten ihm
zu, die vollkommene Ruhe, welche eines der ersten Erfordernisse der Kur oder
Nachkur des Fürsten war, durch Vortrag des Inhalts ihrer Schreiben zu
unterbrechen, wobei die Herrschaften in der Regel mit der Formel begannen:
"Ich weiß zwar sehr wohl, daß Sie wenig Zeit haben, und daß Se. Durch¬
laucht noch weniger hat, hoffe aber, daß hier eine Ausnahme statthaft sein wird."

So sah sich der Fürst, um sich des Uebels zu erwehren, das nachgerade
ungeheuerliche und sast beängstigende Gestalt angenommen hatte, eines Tages
in die Nothwendigkeit versetzt, eine Anordnung zu treffen, nach welcher die
Annahme aller an ihn adressirter Privatbriefe verweigert werden sollte, soweit
dieselben nicht als von Verwandten oder speziellen Freunden herrührend er¬
kennbar waren. Ein großes weitverbreitetes Blatt erhielt die Anzeige und
Rechtfertigung dieser Maßregel. Ob sie die Wuth auf die Dauer gestaut hat,
ist zweifelhaft. Mitte Oktober 1877 schien der Briefstrom allerdings nur noch
zu rieseln. Es waren indeß damals erst wenige Tage verflossen, seit der
Reichskanzler von Gastein nach Varzin zurückgekehrt war, und vielleicht wußte
die Zudringlichkeit, die ihn früher hier geplagt hatte, noch nicht, wohin sie ihre
Anliegen zu adressiren hatte.

Eine Kirche ist im Dorfe nicht vorhanden. Wer die Predigt hören will,
muß nach dem eine kleine Stunde von hier entfernten Wussow gehen. Der
Fürst nimmt, obwohl er, wie ich anderswo mehrfach angedeutet habe, ein
gottesfürchtiger Mann ist, der seine Kraft in der Religion sucht, seine Pflichten
in ihr begründet und den Tod als Mnus, vitg.<z betrachtet, am öffentlichen
Gottesdienste nur wenig Theil -- vielleicht aus Gesundheitsrücksichten.

Das Leben des Kanzlers in seiner Varziner Zurückgezogenheit ist ein
sehr einfaches. Es ist im wesentlichen Erholung von Geschäftsüberbürdung,
Reichstagsreden und den bekannten traurigen "Friktionen", Erholung in guter


Vorschlägen zur Verbesserung der Welt nach allen Richtungen, mit langen
politischen Auseinandersetzungen, die zuweilen sehr komischer Art waren, mit
Gesuchen um Unterstützung durch Geld oder Empfehlung, um Darlehen, um
Anstellungen, um Gutachten, mit Rathschlägen und Anerbietungen zum Ankauf
von Gütern, mit Befürwortungen der verschiedensten Anliegen Dritter, mit
Bitten um Einlösung von Pfandscheinen, mit Manuskripten, für die sich kein
Verleger gefunden, und die dem Fürsten nun zur Veröffentlichung anvertraut
wurden, in steigender Progression zu. Allerhand Manöver wurden dabei an¬
gewendet, um den Reichskanzler zur Eröffnung und zum Lesen dieser Episteln
zu verleiten oder zu nöthigen. Man rekommandirte sie, man vermerkte auf
dem Kouvert: „Eigenhändig zu öffnen" oder: „Wichtiger Inhalt. Bitte, selbst
zu lesen." Man bezog sich auf Empfehlungen von Autoritäten. Andere rich¬
teten ihre Wünsche an den Geheimen Legationsrath Bucher und mutheten ihm
zu, die vollkommene Ruhe, welche eines der ersten Erfordernisse der Kur oder
Nachkur des Fürsten war, durch Vortrag des Inhalts ihrer Schreiben zu
unterbrechen, wobei die Herrschaften in der Regel mit der Formel begannen:
„Ich weiß zwar sehr wohl, daß Sie wenig Zeit haben, und daß Se. Durch¬
laucht noch weniger hat, hoffe aber, daß hier eine Ausnahme statthaft sein wird."

So sah sich der Fürst, um sich des Uebels zu erwehren, das nachgerade
ungeheuerliche und sast beängstigende Gestalt angenommen hatte, eines Tages
in die Nothwendigkeit versetzt, eine Anordnung zu treffen, nach welcher die
Annahme aller an ihn adressirter Privatbriefe verweigert werden sollte, soweit
dieselben nicht als von Verwandten oder speziellen Freunden herrührend er¬
kennbar waren. Ein großes weitverbreitetes Blatt erhielt die Anzeige und
Rechtfertigung dieser Maßregel. Ob sie die Wuth auf die Dauer gestaut hat,
ist zweifelhaft. Mitte Oktober 1877 schien der Briefstrom allerdings nur noch
zu rieseln. Es waren indeß damals erst wenige Tage verflossen, seit der
Reichskanzler von Gastein nach Varzin zurückgekehrt war, und vielleicht wußte
die Zudringlichkeit, die ihn früher hier geplagt hatte, noch nicht, wohin sie ihre
Anliegen zu adressiren hatte.

Eine Kirche ist im Dorfe nicht vorhanden. Wer die Predigt hören will,
muß nach dem eine kleine Stunde von hier entfernten Wussow gehen. Der
Fürst nimmt, obwohl er, wie ich anderswo mehrfach angedeutet habe, ein
gottesfürchtiger Mann ist, der seine Kraft in der Religion sucht, seine Pflichten
in ihr begründet und den Tod als Mnus, vitg.<z betrachtet, am öffentlichen
Gottesdienste nur wenig Theil — vielleicht aus Gesundheitsrücksichten.

Das Leben des Kanzlers in seiner Varziner Zurückgezogenheit ist ein
sehr einfaches. Es ist im wesentlichen Erholung von Geschäftsüberbürdung,
Reichstagsreden und den bekannten traurigen „Friktionen", Erholung in guter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/540>, abgerufen am 27.07.2024.