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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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d'Orville'schen Kreise gehörte, seine Hochzeit. Goethe und Lili waren dabei, "und
in dieser Stunde" -- schreibt er acht Tage später an die Stolberg -- "war
ich in der grausamst sehnlichst huschten Lage meines ganzen Lebens. O warum
kann ich nichts davon sagen! Warum! Wie ich durch die glühendsten Trähnen
der Liebe, Mond und Welt schaute und mich alles seelenvoll umgab. Und in
der Ferne die Waldhorn, und der Hochzeitgäste laute Freuden." An demselben
Tage, am 10. September, hatte drin in Frankfurt die Herbstmesse begonnen.
Tags darauf ist er wieder in der Stadt und bittet die Fahlmer: "Liebste
Tante ich komme von Offenbach! -- kann Ihnen weder Blick noch Zug
geben von der Wirthschaft. Mein Herz immer wie ein Strumpf, das äussere
zu innerst, das innere zu äuserst gekehrt. Bitte! Bitte! -- Sehen Sie sich in
der Messe um, nach was -- für Lili!!!! Galanterie Bijouterie, das neueste,
eleganteste! -- Sie fühlens allein und meine Liebe dazu! Aber heilig unter uns,
der Mama nichts davon."

Ein seltsameres Gemisch der widersprechendsten Wünsche, Absichten und Hoff¬
nungen, als wie es aus all' diesen Zeugnissen uns entgegentritt, ist wohl nicht gut
denkbar. Goethe sieht klar und deutlich, daß die Kluft zwischen ihm und Lili,
die schon vor seiner Abreise sich gebildet hatte, in seiner Abwesenheit in hoff¬
nungsloser Weise sich erweitert hat; er hat nicht die Kraft, sich zu einem energischen
Schritte aufzuraffen und den Besitz der Geliebten, allen Widerwärtigkeiten
zum Trotz, sich zu erkämpfen; sein böses Gewissen sagt ihm sogar, daß er übe^
kurz oder lang auf und davon gehen und Lili verlassen werde, gerade so wie
er Friederike verlassen, ja er sieht sich schon nach Mitteln und Wegen um,
bei erster Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen; und dennoch spiegelt
er unaufhörlich seinem Herzen die eitle Hoffnung vor, daß der Besitz der
Geliebten ihn endlich doch noch beglücken werde, er setzt das alte Liebesspiel
verwegen fort und sucht das kindlich treue Herz Lili's durch Gaben von eigner
und von fremder Hand in seiner Sündhaftigkeit zu bestärken! Man kann die
Frage nicht abweisen: Wer ist, rein menschlich betrachtet, hier der Größere?
der 27 jährige Mann, der sich über seinen Schlappsinn ärgert, oder das 17jährige
Mädchen, das entschlossen ist, Mutter und Brüder zu verlassen und mit dem
Geliebten übers Meer zu gehen?

Ein solcher Zustand konnte unmöglich von Dauer sein, und eine Wendung
kam denn auch schon in den nächsten Tagen. Plötzlich macht sich eine Ver¬
änderung in dem Verhältniß der Liebenden fühlbar. Für den 19. September
war, was wohl zu den regelmäßigen Meßfreuden gehörte, ein Maskenball
angesagt. Voller Freuden schreibt Goethe am 15. September an die Stolberg:
"Sie rathen nicht was mich beschäftigt, eine Maske, auf kommenden Dienstag,
wo wir Ball haben .... meine Masque wird eine altdeutsche Tracht,


Grenzboten III. 1379. S1

d'Orville'schen Kreise gehörte, seine Hochzeit. Goethe und Lili waren dabei, „und
in dieser Stunde" — schreibt er acht Tage später an die Stolberg — „war
ich in der grausamst sehnlichst huschten Lage meines ganzen Lebens. O warum
kann ich nichts davon sagen! Warum! Wie ich durch die glühendsten Trähnen
der Liebe, Mond und Welt schaute und mich alles seelenvoll umgab. Und in
der Ferne die Waldhorn, und der Hochzeitgäste laute Freuden." An demselben
Tage, am 10. September, hatte drin in Frankfurt die Herbstmesse begonnen.
Tags darauf ist er wieder in der Stadt und bittet die Fahlmer: „Liebste
Tante ich komme von Offenbach! — kann Ihnen weder Blick noch Zug
geben von der Wirthschaft. Mein Herz immer wie ein Strumpf, das äussere
zu innerst, das innere zu äuserst gekehrt. Bitte! Bitte! — Sehen Sie sich in
der Messe um, nach was — für Lili!!!! Galanterie Bijouterie, das neueste,
eleganteste! — Sie fühlens allein und meine Liebe dazu! Aber heilig unter uns,
der Mama nichts davon."

Ein seltsameres Gemisch der widersprechendsten Wünsche, Absichten und Hoff¬
nungen, als wie es aus all' diesen Zeugnissen uns entgegentritt, ist wohl nicht gut
denkbar. Goethe sieht klar und deutlich, daß die Kluft zwischen ihm und Lili,
die schon vor seiner Abreise sich gebildet hatte, in seiner Abwesenheit in hoff¬
nungsloser Weise sich erweitert hat; er hat nicht die Kraft, sich zu einem energischen
Schritte aufzuraffen und den Besitz der Geliebten, allen Widerwärtigkeiten
zum Trotz, sich zu erkämpfen; sein böses Gewissen sagt ihm sogar, daß er übe^
kurz oder lang auf und davon gehen und Lili verlassen werde, gerade so wie
er Friederike verlassen, ja er sieht sich schon nach Mitteln und Wegen um,
bei erster Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen; und dennoch spiegelt
er unaufhörlich seinem Herzen die eitle Hoffnung vor, daß der Besitz der
Geliebten ihn endlich doch noch beglücken werde, er setzt das alte Liebesspiel
verwegen fort und sucht das kindlich treue Herz Lili's durch Gaben von eigner
und von fremder Hand in seiner Sündhaftigkeit zu bestärken! Man kann die
Frage nicht abweisen: Wer ist, rein menschlich betrachtet, hier der Größere?
der 27 jährige Mann, der sich über seinen Schlappsinn ärgert, oder das 17jährige
Mädchen, das entschlossen ist, Mutter und Brüder zu verlassen und mit dem
Geliebten übers Meer zu gehen?

Ein solcher Zustand konnte unmöglich von Dauer sein, und eine Wendung
kam denn auch schon in den nächsten Tagen. Plötzlich macht sich eine Ver¬
änderung in dem Verhältniß der Liebenden fühlbar. Für den 19. September
war, was wohl zu den regelmäßigen Meßfreuden gehörte, ein Maskenball
angesagt. Voller Freuden schreibt Goethe am 15. September an die Stolberg:
»Sie rathen nicht was mich beschäftigt, eine Maske, auf kommenden Dienstag,
wo wir Ball haben .... meine Masque wird eine altdeutsche Tracht,


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[0399] d'Orville'schen Kreise gehörte, seine Hochzeit. Goethe und Lili waren dabei, „und in dieser Stunde" — schreibt er acht Tage später an die Stolberg — „war ich in der grausamst sehnlichst huschten Lage meines ganzen Lebens. O warum kann ich nichts davon sagen! Warum! Wie ich durch die glühendsten Trähnen der Liebe, Mond und Welt schaute und mich alles seelenvoll umgab. Und in der Ferne die Waldhorn, und der Hochzeitgäste laute Freuden." An demselben Tage, am 10. September, hatte drin in Frankfurt die Herbstmesse begonnen. Tags darauf ist er wieder in der Stadt und bittet die Fahlmer: „Liebste Tante ich komme von Offenbach! — kann Ihnen weder Blick noch Zug geben von der Wirthschaft. Mein Herz immer wie ein Strumpf, das äussere zu innerst, das innere zu äuserst gekehrt. Bitte! Bitte! — Sehen Sie sich in der Messe um, nach was — für Lili!!!! Galanterie Bijouterie, das neueste, eleganteste! — Sie fühlens allein und meine Liebe dazu! Aber heilig unter uns, der Mama nichts davon." Ein seltsameres Gemisch der widersprechendsten Wünsche, Absichten und Hoff¬ nungen, als wie es aus all' diesen Zeugnissen uns entgegentritt, ist wohl nicht gut denkbar. Goethe sieht klar und deutlich, daß die Kluft zwischen ihm und Lili, die schon vor seiner Abreise sich gebildet hatte, in seiner Abwesenheit in hoff¬ nungsloser Weise sich erweitert hat; er hat nicht die Kraft, sich zu einem energischen Schritte aufzuraffen und den Besitz der Geliebten, allen Widerwärtigkeiten zum Trotz, sich zu erkämpfen; sein böses Gewissen sagt ihm sogar, daß er übe^ kurz oder lang auf und davon gehen und Lili verlassen werde, gerade so wie er Friederike verlassen, ja er sieht sich schon nach Mitteln und Wegen um, bei erster Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen; und dennoch spiegelt er unaufhörlich seinem Herzen die eitle Hoffnung vor, daß der Besitz der Geliebten ihn endlich doch noch beglücken werde, er setzt das alte Liebesspiel verwegen fort und sucht das kindlich treue Herz Lili's durch Gaben von eigner und von fremder Hand in seiner Sündhaftigkeit zu bestärken! Man kann die Frage nicht abweisen: Wer ist, rein menschlich betrachtet, hier der Größere? der 27 jährige Mann, der sich über seinen Schlappsinn ärgert, oder das 17jährige Mädchen, das entschlossen ist, Mutter und Brüder zu verlassen und mit dem Geliebten übers Meer zu gehen? Ein solcher Zustand konnte unmöglich von Dauer sein, und eine Wendung kam denn auch schon in den nächsten Tagen. Plötzlich macht sich eine Ver¬ änderung in dem Verhältniß der Liebenden fühlbar. Für den 19. September war, was wohl zu den regelmäßigen Meßfreuden gehörte, ein Maskenball angesagt. Voller Freuden schreibt Goethe am 15. September an die Stolberg: »Sie rathen nicht was mich beschäftigt, eine Maske, auf kommenden Dienstag, wo wir Ball haben .... meine Masque wird eine altdeutsche Tracht, Grenzboten III. 1379. S1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/399>, abgerufen am 27.11.2024.