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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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nachweisbar sei. Das scheint der Standpunkt zu sein, den Du-Boys-Reymond
in dem bekannten Vortrage einnimmt, wenn er sagt: "Ob wir die geistigen
Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage
ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugniß materieller Bedin¬
gungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas
ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde."")

Darnach bemißt sich denn für uns der Werth der Schrift Flügel's insofern,
als wir in ihr einen ausgezeichneten Nachweis erkennen dafür, daß es wissen¬
schaftlich unmöglich ist, in den physischen Bedingungen des menschlichen Daseins
den zureichenden Grund für die Existenz des seelischen Lebens zu erkennen.
Dagegen fehlt ein solches Begreifen des Seelenlebens, durch welches prinzipiell
der Materialismus ausgeschlossen wäre. Wir kommen daher zu einer entgegen¬
gesetzten Beantwortung der Frage nach dem Recht des Materialismus, indem
wir in diesem eine Bewegung erblicken, welche die Naturwissenschaft nur dazu
auffordern sollte, der Neigung, ihre Erfahrungen andern Gebieten des Daseins
zu oktroyiren, einen energischen Widerstand zu leisten. Der Materialismus ist
als einseitige Reaktion gegenüber einem einseitigen Idealismus wohl zu begreifen,
er mag geschichtlich nothwendig geworden sein, aber ein inneres Recht besitzt
er nicht. Er vertritt keine Wahrheit, die nicht auch von anderer Seite aus¬
gesprochen wäre; und es ist auch wohl kaum sein Verdienst, daß sie von dort
her ausgesprochen wurde.

"Gehirn und Geist" lautet das erste Thema des Flügel'schen Buches. Es
handelt sich hier um die Frage, ob der unleugbare Parallelismus zwischen
Gehirn- und Geistesthätigkeit, die unbestreitbare Thatsache, daß diese von jener
abhängig ist, mit Nothwendigkeit auf eine Identität beider Funktionen schließen
lasse. Der Materialismus behauptet es. Aber sein Beweisverfahren ist nicht
zwingend. Aus der Bedingtheit des Seelenlebens von der Organisation des
Gehirns folgt nur, daß letzteres eine, aber es folgt nicht, daß es die alleinige
Ursache des ersteren sei. Ja auch jener Schluß ist nicht unabweislich. Hat
doch Leibniz den Parallelismus zwischen Leib und Seele nicht durch Einwir¬
kung des einen Faktors auf den andern, sondern durch die Theorie von der
Prästabilirten Harmonie gedeutet, durch welche dem Vorgange auf der einen
ein Vorgang auf der andern Seite entspreche.

Aber auch abgesehen davon, daß die Prämissen, von denen der Materia¬
lismus ausgeht, keineswegs zu dem Ergebniß nöthigen, zu dem derselbe gelangt
ist, so ist auch sein Versuch, das Seelenleben als Funktion des Gehirns zu
erweisen, durchaus mißlungen. Die moderne Naturwissenschaft erklärt alle



*) Ueber die Grenzen des Natur-Erkennens. Leipzig, 1372, S, 31.

nachweisbar sei. Das scheint der Standpunkt zu sein, den Du-Boys-Reymond
in dem bekannten Vortrage einnimmt, wenn er sagt: „Ob wir die geistigen
Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage
ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugniß materieller Bedin¬
gungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas
ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde."")

Darnach bemißt sich denn für uns der Werth der Schrift Flügel's insofern,
als wir in ihr einen ausgezeichneten Nachweis erkennen dafür, daß es wissen¬
schaftlich unmöglich ist, in den physischen Bedingungen des menschlichen Daseins
den zureichenden Grund für die Existenz des seelischen Lebens zu erkennen.
Dagegen fehlt ein solches Begreifen des Seelenlebens, durch welches prinzipiell
der Materialismus ausgeschlossen wäre. Wir kommen daher zu einer entgegen¬
gesetzten Beantwortung der Frage nach dem Recht des Materialismus, indem
wir in diesem eine Bewegung erblicken, welche die Naturwissenschaft nur dazu
auffordern sollte, der Neigung, ihre Erfahrungen andern Gebieten des Daseins
zu oktroyiren, einen energischen Widerstand zu leisten. Der Materialismus ist
als einseitige Reaktion gegenüber einem einseitigen Idealismus wohl zu begreifen,
er mag geschichtlich nothwendig geworden sein, aber ein inneres Recht besitzt
er nicht. Er vertritt keine Wahrheit, die nicht auch von anderer Seite aus¬
gesprochen wäre; und es ist auch wohl kaum sein Verdienst, daß sie von dort
her ausgesprochen wurde.

„Gehirn und Geist" lautet das erste Thema des Flügel'schen Buches. Es
handelt sich hier um die Frage, ob der unleugbare Parallelismus zwischen
Gehirn- und Geistesthätigkeit, die unbestreitbare Thatsache, daß diese von jener
abhängig ist, mit Nothwendigkeit auf eine Identität beider Funktionen schließen
lasse. Der Materialismus behauptet es. Aber sein Beweisverfahren ist nicht
zwingend. Aus der Bedingtheit des Seelenlebens von der Organisation des
Gehirns folgt nur, daß letzteres eine, aber es folgt nicht, daß es die alleinige
Ursache des ersteren sei. Ja auch jener Schluß ist nicht unabweislich. Hat
doch Leibniz den Parallelismus zwischen Leib und Seele nicht durch Einwir¬
kung des einen Faktors auf den andern, sondern durch die Theorie von der
Prästabilirten Harmonie gedeutet, durch welche dem Vorgange auf der einen
ein Vorgang auf der andern Seite entspreche.

Aber auch abgesehen davon, daß die Prämissen, von denen der Materia¬
lismus ausgeht, keineswegs zu dem Ergebniß nöthigen, zu dem derselbe gelangt
ist, so ist auch sein Versuch, das Seelenleben als Funktion des Gehirns zu
erweisen, durchaus mißlungen. Die moderne Naturwissenschaft erklärt alle



*) Ueber die Grenzen des Natur-Erkennens. Leipzig, 1372, S, 31.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/361>, abgerufen am 27.11.2024.