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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Die Gegensätze lagen hart nebeneinander, und der Advokat lernte sich früh
in Menschen aller Art, von entgegengesetzten Gesinnungen und entgegengesetztem
Interesse schicken. Daher seine Toleranz gegen Meinungen und Gesinnungen;
daher seine Neigung, alle Gegenstände von mehreren Seiten zu betrachten, zu¬
weilen absichtlich von der ungewöhnlichsten. Er liebte, wie Leibniz, jede Meinung
so lange hin und her zu wenden, bis er sie annehmbar befunden; erging mit¬
unter darin sehr weit; von seinen Paradoxieen muß man vieles abrechnen, was der
Schalk oder der juristische Virtuos überm Herzen wegspricht; um deutlich zu
werden, sucht er das derbste, das nackteste und ungesittetste Wort. In gründlicher
Verachtung der Redensarten von allgemeinen Menschenrechten, allgemeiner
Menschenliebe und bildloser Moralität, wie Weiße und Gellert sie vortrugen,
scheute er nicht vor den härtesten, ja cynischen Konsequenzen, um den wirklichen
Menschen mit seinen mannigfaltigen Leidenschaften und Grillen als Naturwesen,
mit seinen historischen Schranken als Bürger jenem abstrakten Ideal gegenüber¬
zustellen. Aber seine massive Gesundheit bewahrte ihn auch vor jeder eigentlichen
Sophistik. Freilich kann man seine Behauptungen oft in das Gegentheil um¬
kehren; aber den besten philosophischen Sätzen geht es nicht anders. Gewissen¬
haft in allem, was er that, war er in seiner Bildung und seinem Urtheil frei.
Seinem Auge entging nichts, am wenigsten das Abgeschmackte, zugleich aber
hatte sein Blick etwas Liebevolles: der Humor war die natürliche Form! seines
Denkens und Empfindens.

Die Freiheit seines Blickes wurde gefördert durch ein sehr umfassendes
historisches Wissen; er verstand die Geschichte seiner Heimat darum so gut,
weil ihm die Analogieen aus allen Zeiten und Ländern gegenwärtig waren.
In seinem historischen Wissen duldete er keine bloßen Namen; jeder Begriff
mußte sich ihm in sinnliche Anschauung übersetzen. Das westMlische Bauern-
haus versinnlichte ihm die Cherusker das Tacitus, die Kolonieen in Nord¬
amerika die Gesetze der Völkerwanderung. Geschichte, Rechts- und Sprach¬
wissenschaft griffen bei ihm ineinander. Ein Kerndeutscher, schulte er doch seine
Sprache an der Bildung der Fremden: er sprach fertig französisch, italienisch,
englisch und war ein gründlicher Kenner der Alten. Sein Humor war nicht
ein loses Spiel, sondern das Resultat gründlichster Bildung.

Neben Lessing ist Möser ohne Zweifel der bedeutendste Prosaiker der
Periode. Es ist interessant, bei stilistischen Umarbeitungen ihr Verfahren zu
vergleichen; von beiden haben wir Proben. Lessing arbeitet seine Sätze immer
pointirter heraus, während Möser sich gern schelmisch zurückzieht, die Sätze
ihrem eigenen Schicksal zu überlassen scheint und mit einer unschuldigen Miene
zusieht, als gehe ihn die Sache nichts an. Auch das ist eine bewußte Kunst¬
form, aber der Lessing's entgegengesetzt.


Die Gegensätze lagen hart nebeneinander, und der Advokat lernte sich früh
in Menschen aller Art, von entgegengesetzten Gesinnungen und entgegengesetztem
Interesse schicken. Daher seine Toleranz gegen Meinungen und Gesinnungen;
daher seine Neigung, alle Gegenstände von mehreren Seiten zu betrachten, zu¬
weilen absichtlich von der ungewöhnlichsten. Er liebte, wie Leibniz, jede Meinung
so lange hin und her zu wenden, bis er sie annehmbar befunden; erging mit¬
unter darin sehr weit; von seinen Paradoxieen muß man vieles abrechnen, was der
Schalk oder der juristische Virtuos überm Herzen wegspricht; um deutlich zu
werden, sucht er das derbste, das nackteste und ungesittetste Wort. In gründlicher
Verachtung der Redensarten von allgemeinen Menschenrechten, allgemeiner
Menschenliebe und bildloser Moralität, wie Weiße und Gellert sie vortrugen,
scheute er nicht vor den härtesten, ja cynischen Konsequenzen, um den wirklichen
Menschen mit seinen mannigfaltigen Leidenschaften und Grillen als Naturwesen,
mit seinen historischen Schranken als Bürger jenem abstrakten Ideal gegenüber¬
zustellen. Aber seine massive Gesundheit bewahrte ihn auch vor jeder eigentlichen
Sophistik. Freilich kann man seine Behauptungen oft in das Gegentheil um¬
kehren; aber den besten philosophischen Sätzen geht es nicht anders. Gewissen¬
haft in allem, was er that, war er in seiner Bildung und seinem Urtheil frei.
Seinem Auge entging nichts, am wenigsten das Abgeschmackte, zugleich aber
hatte sein Blick etwas Liebevolles: der Humor war die natürliche Form! seines
Denkens und Empfindens.

Die Freiheit seines Blickes wurde gefördert durch ein sehr umfassendes
historisches Wissen; er verstand die Geschichte seiner Heimat darum so gut,
weil ihm die Analogieen aus allen Zeiten und Ländern gegenwärtig waren.
In seinem historischen Wissen duldete er keine bloßen Namen; jeder Begriff
mußte sich ihm in sinnliche Anschauung übersetzen. Das westMlische Bauern-
haus versinnlichte ihm die Cherusker das Tacitus, die Kolonieen in Nord¬
amerika die Gesetze der Völkerwanderung. Geschichte, Rechts- und Sprach¬
wissenschaft griffen bei ihm ineinander. Ein Kerndeutscher, schulte er doch seine
Sprache an der Bildung der Fremden: er sprach fertig französisch, italienisch,
englisch und war ein gründlicher Kenner der Alten. Sein Humor war nicht
ein loses Spiel, sondern das Resultat gründlichster Bildung.

Neben Lessing ist Möser ohne Zweifel der bedeutendste Prosaiker der
Periode. Es ist interessant, bei stilistischen Umarbeitungen ihr Verfahren zu
vergleichen; von beiden haben wir Proben. Lessing arbeitet seine Sätze immer
pointirter heraus, während Möser sich gern schelmisch zurückzieht, die Sätze
ihrem eigenen Schicksal zu überlassen scheint und mit einer unschuldigen Miene
zusieht, als gehe ihn die Sache nichts an. Auch das ist eine bewußte Kunst¬
form, aber der Lessing's entgegengesetzt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/36>, abgerufen am 24.11.2024.