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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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was er ist, als einen Dogmatismus, aufgerichtet mit den Mitteln, über welche
ein philosophischer Dilettantismus, der ein strenges Denken verschmäht, gebietet.

Es sind zwei philosophische Disziplinen, denen die Aufgabe zufällt, den
Kampf gegen den Materialismus auszufechten, die Psychologie und die Ethik.
Letztere hat zu zeigen, wie die Thatsachen des sittlichen Bewußtseins von materia¬
listischer Gesammtanschauung uns nicht blos unerklärt bleiben, sondern mit
derselben schlechthin in Widerspruch sich.befinden; ersterer liegt es ob, darzu¬
legen, daß die Elemente des Seelenlebens, Empfindung, Vorstellung, Begehren,
sowie die Einheit derselben im Bewußtsein Zustände und Vorgänge sind, welche
keine Vergleichung mit den Bewegungen und Veränderungen auf dem Gebiete
der Körperwelt gestatten. Unter den Schriften, welche vom psychologischen
Standpunkte aus den Materialismus bekämpfen, zeichnet sich die neuerdings
veröffentlichte Arbeit O. Flügel's: "Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die
neueren Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe" (Cöthen, Otto
Schulze, 1878) durch Scharfsinn des Gedankens und Durchsichtigkeit der Dar¬
stellung ans, und wir glauben dem Interesse unsrer Leser zu entsprechen, wenn
wir es im Folgenden versuchen, ans diese Schrift, theils Bericht erstattend,
theils weiterführend und ergänzend, näher einzugehen. Wir befinden uus dabei
insoweit in Uebereinstimmung mit dem Verfasser, als es sich um einzelne Unter¬
suchungen handelt; mit dem allgemeinen Standpunkte, den er einnimmt, dem
Standpunkte der Philosophie Herbart's, stehen wir in prinzipiellem Widerspruch.

Der Materialismus der Gegenwart ruht auf einer zwiefachen Voraus¬
setzung, einmal auf einer methodischen, dann auf einer metaphysischen. In
ersterer Hinsicht vertritt er die Induktion, die Beobachtung der einzelnen That¬
sachen, um aus ihnen allgemeingiltige Schlüsse zu ziehen, gegenüber der
Deduktion, der Ableitung der einzelnen Thatsachen aus allgemeinen spekulativen
Ideen; er folgt also der Methode der exakten Naturforschung im Unterschiede
von der dialektischen Methode der Naturphilosophie. Diese induktive Methode
ist nun in der That die einzige, welche der Naturforschung angemessen ist, und
nur durch die Anwendung derselben ist es ihr gelungen, die bewunderungs¬
würdigen Erfolge zu erzielen, deren sie sich gegenwärtig rühmen kann. Die
Befolgung dieser Methode ist es auch keineswegs, die den Materialismus her¬
vorgebracht hat. Verhängnißvoll ist sie nur insofern geworden, als der Mate¬
rialismus sie verwendet hat, um seine eigenthümliche Metaphysik mit ihren
Mitteln zu erweisen. Diese besteht in einem einseitigen Empirismus. Es ist
nicht die Erfahrung im umfassenden Sinne des Wortes, welche die Welt des
Sichtbaren und Unsichtbaren als gleich wesentliche Realitäten in sich schließt,
auf welche der Materialismus sich als auf die einzige Erkenntnißquelle zurück¬
zieht; es ist vielmehr die Erfahrung in dem beschränkten Sinne des sinnlich


was er ist, als einen Dogmatismus, aufgerichtet mit den Mitteln, über welche
ein philosophischer Dilettantismus, der ein strenges Denken verschmäht, gebietet.

Es sind zwei philosophische Disziplinen, denen die Aufgabe zufällt, den
Kampf gegen den Materialismus auszufechten, die Psychologie und die Ethik.
Letztere hat zu zeigen, wie die Thatsachen des sittlichen Bewußtseins von materia¬
listischer Gesammtanschauung uns nicht blos unerklärt bleiben, sondern mit
derselben schlechthin in Widerspruch sich.befinden; ersterer liegt es ob, darzu¬
legen, daß die Elemente des Seelenlebens, Empfindung, Vorstellung, Begehren,
sowie die Einheit derselben im Bewußtsein Zustände und Vorgänge sind, welche
keine Vergleichung mit den Bewegungen und Veränderungen auf dem Gebiete
der Körperwelt gestatten. Unter den Schriften, welche vom psychologischen
Standpunkte aus den Materialismus bekämpfen, zeichnet sich die neuerdings
veröffentlichte Arbeit O. Flügel's: „Die Seelenfrage mit Rücksicht auf die
neueren Wandlungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe" (Cöthen, Otto
Schulze, 1878) durch Scharfsinn des Gedankens und Durchsichtigkeit der Dar¬
stellung ans, und wir glauben dem Interesse unsrer Leser zu entsprechen, wenn
wir es im Folgenden versuchen, ans diese Schrift, theils Bericht erstattend,
theils weiterführend und ergänzend, näher einzugehen. Wir befinden uus dabei
insoweit in Uebereinstimmung mit dem Verfasser, als es sich um einzelne Unter¬
suchungen handelt; mit dem allgemeinen Standpunkte, den er einnimmt, dem
Standpunkte der Philosophie Herbart's, stehen wir in prinzipiellem Widerspruch.

Der Materialismus der Gegenwart ruht auf einer zwiefachen Voraus¬
setzung, einmal auf einer methodischen, dann auf einer metaphysischen. In
ersterer Hinsicht vertritt er die Induktion, die Beobachtung der einzelnen That¬
sachen, um aus ihnen allgemeingiltige Schlüsse zu ziehen, gegenüber der
Deduktion, der Ableitung der einzelnen Thatsachen aus allgemeinen spekulativen
Ideen; er folgt also der Methode der exakten Naturforschung im Unterschiede
von der dialektischen Methode der Naturphilosophie. Diese induktive Methode
ist nun in der That die einzige, welche der Naturforschung angemessen ist, und
nur durch die Anwendung derselben ist es ihr gelungen, die bewunderungs¬
würdigen Erfolge zu erzielen, deren sie sich gegenwärtig rühmen kann. Die
Befolgung dieser Methode ist es auch keineswegs, die den Materialismus her¬
vorgebracht hat. Verhängnißvoll ist sie nur insofern geworden, als der Mate¬
rialismus sie verwendet hat, um seine eigenthümliche Metaphysik mit ihren
Mitteln zu erweisen. Diese besteht in einem einseitigen Empirismus. Es ist
nicht die Erfahrung im umfassenden Sinne des Wortes, welche die Welt des
Sichtbaren und Unsichtbaren als gleich wesentliche Realitäten in sich schließt,
auf welche der Materialismus sich als auf die einzige Erkenntnißquelle zurück¬
zieht; es ist vielmehr die Erfahrung in dem beschränkten Sinne des sinnlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/357>, abgerufen am 27.11.2024.