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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Jedem unsrer Leser wird Goethe's ausführlicher Bericht über eine gestörte
Feier von Lili's Geburtstag in der Erinnerung sein. Lili hatte -- erzählt
er -- versprochen, an ihrem Geburtstag zu Mittag nach Offenbach zu kommen,
nud alle freuten sich darauf und trafen Vorbereitungen, sie herzlich zu empfangen.
Da erschien am Abend zuvor Lili's Bruder bei Goethe mit der Meldung, daß
es der Schwester "völlig unmöglich sei, morgen Mittag nach Offenbach zu
kommen und an dem ihr zugedachten Feste Theil zu nehmen; erst gegen Abend
hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können; sie bitte ihn aber, so herzlich
dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser
Nachricht, die sie ihm überlasse hinauszumelden, gemildert, ja versöhnt werde."
Darauf will Goethe denn, rasch entschlossen, ein dramatisches Gelegenheits¬
gedicht, "Sie kommt nicht! ein jammervolles Familienstück", das später verloren
gegangen sei, dessen Inhalt er aber in "Dichtung und Wahrheit" aus dem
Gedächtniß' reproduzirt, entworfen und am Morgen hinausgeschickt haben.
Mittags sei er dann selbst, Abends auch Lili nachgekommen. "Sie ward von
heiteren, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außen¬
bleiben so viel Heiterkeit erlaube." "Es bedürfte keines sonderlichen Scharf¬
sinns," setzt Goethe hinzu, "um zu bemerken, daß ihr Ausbleiben von dem ihr
gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch Hin- und Herreden über unser
Verhältniß verursacht war."

Hier liegt eine der in der Einleitung erwähnten absichtlichen Verschiebungen
der Thatsachen vor. Am 23. Juni 1775, am Geburtstage Lili's, war Goethe
mitten auf seiner Schweizerreise begriffen nud befand sich auf dem Se. Gott-
hcird. Das wußte er, als er die letzten Bücher von "Dichtung und Wahrheit"
schrieb, sehr wohl, denn er besaß von dieser Schweizerreise sein Tagebuch. Vom
16. Juni an gibt er die bis dahin völlig zeitlos gehaltene Darstellung auf und
berichtet lageweise seine Reiseerlebnisse. Aber um seinen Bericht mit der Ge¬
burtstagsgeschichte nicht in Kollision zu bringen, schreibt er statt des 16. Juni
den 16. Juli und setzt die ganze Reise einen Monat später an. Es ist also
klar, daß der aus Offenbach erzählte Vorfall, wenn er sich so oder ähnlich
zugetragen, eine andere Veranlassung gehabt haben muß, und hier hat denn
schon Düntzer die einleuchtende Vermuthung ausgesprochen, daß es sich wohl
um eine Feier zu Ehren des jungen Paares gehandelt habe, die Onkel d'Orville
Ende April oder Anfang Mai in Offenbach habe arrangiren wollen. Löper
meint, wenn diese Vermuthung richtig sei, dann würde Lili's Ausbleiben nur
ihren richtigen Takt bewiesen haben. Einfacher ist jedenfalls der Gedanke, daß
sie, wie Goethe selber andeutet, auf direkten Wunsch der Mutter wegblieb.
Keiner Vorfall würde Goethe mehr Ursache gehabt haben als eine simple in
den Vrnnnen gefallene Geburtstagsfeier darzustellen, als einen etwaigen alß-


Jedem unsrer Leser wird Goethe's ausführlicher Bericht über eine gestörte
Feier von Lili's Geburtstag in der Erinnerung sein. Lili hatte — erzählt
er — versprochen, an ihrem Geburtstag zu Mittag nach Offenbach zu kommen,
nud alle freuten sich darauf und trafen Vorbereitungen, sie herzlich zu empfangen.
Da erschien am Abend zuvor Lili's Bruder bei Goethe mit der Meldung, daß
es der Schwester „völlig unmöglich sei, morgen Mittag nach Offenbach zu
kommen und an dem ihr zugedachten Feste Theil zu nehmen; erst gegen Abend
hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können; sie bitte ihn aber, so herzlich
dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser
Nachricht, die sie ihm überlasse hinauszumelden, gemildert, ja versöhnt werde."
Darauf will Goethe denn, rasch entschlossen, ein dramatisches Gelegenheits¬
gedicht, „Sie kommt nicht! ein jammervolles Familienstück", das später verloren
gegangen sei, dessen Inhalt er aber in „Dichtung und Wahrheit" aus dem
Gedächtniß' reproduzirt, entworfen und am Morgen hinausgeschickt haben.
Mittags sei er dann selbst, Abends auch Lili nachgekommen. „Sie ward von
heiteren, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außen¬
bleiben so viel Heiterkeit erlaube." „Es bedürfte keines sonderlichen Scharf¬
sinns," setzt Goethe hinzu, „um zu bemerken, daß ihr Ausbleiben von dem ihr
gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch Hin- und Herreden über unser
Verhältniß verursacht war."

Hier liegt eine der in der Einleitung erwähnten absichtlichen Verschiebungen
der Thatsachen vor. Am 23. Juni 1775, am Geburtstage Lili's, war Goethe
mitten auf seiner Schweizerreise begriffen nud befand sich auf dem Se. Gott-
hcird. Das wußte er, als er die letzten Bücher von „Dichtung und Wahrheit"
schrieb, sehr wohl, denn er besaß von dieser Schweizerreise sein Tagebuch. Vom
16. Juni an gibt er die bis dahin völlig zeitlos gehaltene Darstellung auf und
berichtet lageweise seine Reiseerlebnisse. Aber um seinen Bericht mit der Ge¬
burtstagsgeschichte nicht in Kollision zu bringen, schreibt er statt des 16. Juni
den 16. Juli und setzt die ganze Reise einen Monat später an. Es ist also
klar, daß der aus Offenbach erzählte Vorfall, wenn er sich so oder ähnlich
zugetragen, eine andere Veranlassung gehabt haben muß, und hier hat denn
schon Düntzer die einleuchtende Vermuthung ausgesprochen, daß es sich wohl
um eine Feier zu Ehren des jungen Paares gehandelt habe, die Onkel d'Orville
Ende April oder Anfang Mai in Offenbach habe arrangiren wollen. Löper
meint, wenn diese Vermuthung richtig sei, dann würde Lili's Ausbleiben nur
ihren richtigen Takt bewiesen haben. Einfacher ist jedenfalls der Gedanke, daß
sie, wie Goethe selber andeutet, auf direkten Wunsch der Mutter wegblieb.
Keiner Vorfall würde Goethe mehr Ursache gehabt haben als eine simple in
den Vrnnnen gefallene Geburtstagsfeier darzustellen, als einen etwaigen alß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/322>, abgerufen am 01.09.2024.