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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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beste sei, werden dagegen ihre Meinung gerade durch unsern Fall glänzend
bestätigt finden. In dem ersten Gedichte ist alles klar, rein, stetig. Erst die
Liebste, deren Blick lindert, die aber unerreichbar bleibt wie der Mond; dann
der verführerische Dämon des Flusses, an welchen das Herz wie ein Gespenst
gebannt ist, indem es der Todten haltet, was doch nichts anderes heißt, als
daß dieser Tod die verführerische Gewalt des Flusses dem beweglichen Herzen
des Dichters aufs tiefste eingeprägt hat. Drittens der Mann, an dessen Busen
der Dichter flüchtet, weil die Liebste unnahbar, der Fluß lockend, aber gefähr¬
lich ist.

Das ist einer der köstlichen Ergüsse aus der Brust eines echten Dichters.
Aber freilich konnte dieser Erguß uicht so bleiben, wenn er aus einer intimen
Mittheilung in eine Gedichtsammlung für die Welt übergehen sollte. Elf Jahre
später, im Jahre 1789, gestaltete der Dichter den Gefühlsausbruch von 1778
um. Die Erinnerung an die Lasberg mußte wegfallen, denn sie war in dem
Gedichte so angedeutet, daß nur die Theilnehmer des Erlebnisses sie verstehen
konnten. Erst aus deu Abschriften der Goethischen Gedichte, die sich in Herder's
Nachlaß fanden, kennen wir den richtigen Wortlaut dieser Andeutung, nämlich:
"Haltet ihr (der Lasberg) wie ein Gespenst !c." Der Wortlaut bei scholl
"haltet ihr" gibt gar keinen Sinn; scholl versucht einen hineinzulegen, macht
aber wohlweislich ein Fragezeichen dazu. Diese Erinnerung mußte also weg¬
fallen. Andrerseits war 1789 Frau v. Stein nicht mehr die Liebste. An die
Stelle der Liebsten trat also in der neuen Gestalt ein nicht weiter charakterisier
Freund. Aus der fernen Anbetung der Liebsten war eine schmerzlich süße
Erinnerung geworden, und diese Erinnerung wird nun der Mittelpunkt des
neuen Gedichtes. Als Uebergang zu ihr wird ein neuer Vers eingeschoben:
"Jeden Nachklang fühlt mein Herz:c." Darauf folgt die Erinnerung in Ge¬
stalt einer Klage an den Fluß. Dann aber kommt die Erhebung über die
Erinnerung durch den Genius der Poesie, der den rauschenden Fluß aus dem
Sinnbild der alles hinwegspülenden Zeit zum Träger der Melodieen, d. h. hier
der rhythmischen Formen, macht, in welche der Genius den schwellenden Reich¬
thum schüttet: bald der Wildheit des Stromes in der Winternacht, bald der
Lebenspracht des Frühlings gleichend, der sich von dem Thau des Stromes
nährt. Von diesem Freunde in die Arme eines dritten zu fliehen, wäre höchst
unnütz, schwächlich und sentimental. Vielmehr ist der Strom der Freund, mit
dem der Dichter genießt, was "durch das Labyrinth der Brust wandelt in der
Nacht". Diese Freiheit des Genius, diese Herrschaft über den Strom, diese
Einsamkeit und dieser Genuß des Reichthums der eignen Brust ist die Seligkeit
des Dichters. Die letzten beiden Strophen des Gedichtes in der neuen Gestalt
sind die letzte Steigerung, bilden den Gipfel des Ganzen, aber sie sind nicht


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beste sei, werden dagegen ihre Meinung gerade durch unsern Fall glänzend
bestätigt finden. In dem ersten Gedichte ist alles klar, rein, stetig. Erst die
Liebste, deren Blick lindert, die aber unerreichbar bleibt wie der Mond; dann
der verführerische Dämon des Flusses, an welchen das Herz wie ein Gespenst
gebannt ist, indem es der Todten haltet, was doch nichts anderes heißt, als
daß dieser Tod die verführerische Gewalt des Flusses dem beweglichen Herzen
des Dichters aufs tiefste eingeprägt hat. Drittens der Mann, an dessen Busen
der Dichter flüchtet, weil die Liebste unnahbar, der Fluß lockend, aber gefähr¬
lich ist.

Das ist einer der köstlichen Ergüsse aus der Brust eines echten Dichters.
Aber freilich konnte dieser Erguß uicht so bleiben, wenn er aus einer intimen
Mittheilung in eine Gedichtsammlung für die Welt übergehen sollte. Elf Jahre
später, im Jahre 1789, gestaltete der Dichter den Gefühlsausbruch von 1778
um. Die Erinnerung an die Lasberg mußte wegfallen, denn sie war in dem
Gedichte so angedeutet, daß nur die Theilnehmer des Erlebnisses sie verstehen
konnten. Erst aus deu Abschriften der Goethischen Gedichte, die sich in Herder's
Nachlaß fanden, kennen wir den richtigen Wortlaut dieser Andeutung, nämlich:
„Haltet ihr (der Lasberg) wie ein Gespenst !c." Der Wortlaut bei scholl
„haltet ihr" gibt gar keinen Sinn; scholl versucht einen hineinzulegen, macht
aber wohlweislich ein Fragezeichen dazu. Diese Erinnerung mußte also weg¬
fallen. Andrerseits war 1789 Frau v. Stein nicht mehr die Liebste. An die
Stelle der Liebsten trat also in der neuen Gestalt ein nicht weiter charakterisier
Freund. Aus der fernen Anbetung der Liebsten war eine schmerzlich süße
Erinnerung geworden, und diese Erinnerung wird nun der Mittelpunkt des
neuen Gedichtes. Als Uebergang zu ihr wird ein neuer Vers eingeschoben:
„Jeden Nachklang fühlt mein Herz:c." Darauf folgt die Erinnerung in Ge¬
stalt einer Klage an den Fluß. Dann aber kommt die Erhebung über die
Erinnerung durch den Genius der Poesie, der den rauschenden Fluß aus dem
Sinnbild der alles hinwegspülenden Zeit zum Träger der Melodieen, d. h. hier
der rhythmischen Formen, macht, in welche der Genius den schwellenden Reich¬
thum schüttet: bald der Wildheit des Stromes in der Winternacht, bald der
Lebenspracht des Frühlings gleichend, der sich von dem Thau des Stromes
nährt. Von diesem Freunde in die Arme eines dritten zu fliehen, wäre höchst
unnütz, schwächlich und sentimental. Vielmehr ist der Strom der Freund, mit
dem der Dichter genießt, was „durch das Labyrinth der Brust wandelt in der
Nacht". Diese Freiheit des Genius, diese Herrschaft über den Strom, diese
Einsamkeit und dieser Genuß des Reichthums der eignen Brust ist die Seligkeit
des Dichters. Die letzten beiden Strophen des Gedichtes in der neuen Gestalt
sind die letzte Steigerung, bilden den Gipfel des Ganzen, aber sie sind nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/167>, abgerufen am 01.09.2024.