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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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des Gedichtes den Triumphgesang des Genius, der aus dem mächtigen Rauschen
des Flusses die Melodie des Sieges über die Leiden der Vergangenheit ent¬
nimmt.

Folgt man dieser Deutung, so wird das Gedicht einheitlich und verständlich,
was es ohne dieselbe nicht ist. Denn die Flucht von der siegreichen Gemeinschaft
mit dem Strome, die in den köstlichsten Bildern ausgedrückt ist, zu der senti¬
mentalen Umarmung eines Freundes von Fleisch und Bein bleibt ein Unding,
eine Geschmacklosigkeit, läßt sich dem Dichter schlechterdings nicht zutrauen.
Freilich ist das Bild der Umarmung für die Seelengemeinschaft mit dem Flusse
sehr kühn, und außerdem klingt die Melodie der letzten beiden Strophen, ich
meine die Sprachmelodie, mehr ahnungsvoll als triumphirend.

Aber wir wissen ja aus den Briefen an Frau v. Stein, aus welchem An¬
laß das Gedicht entstanden ist; wir wissen, daß seine erste Gestalt eine völlig
andre war, wissen, daß es die jetzige ungefähr elf Jahre nach der ersten Ent¬
stehung erhalten hat. Vielleicht hilft die Vergleichung der beiden Texte zum
Verständniß des jetzigen Textes. Wir erinnern uns des Anlasses der Dichtung.
Ein Fräulein v. Lasberg hatte am 16. Januar 1778 aus unglücklicher Liebe
den Tod in den Wellen der Ilm gesucht. Tags darauf, als Goethe mit dem
Herzog sich auf dem Eise befand, wurde die Leiche der Unglücklichen gefunden
und zuerst in die Wohnung der Frau v. Stein gebracht. Am folgenden Tage
schrieb Goethe der Freundin: "Gute Nacht, Engel, schonen Sie sich und gehen
nicht herunter. Diese einladende Trauer hat etwas gefährlich Anziehendes, wie
das Wasser selbst; und der Abglanz der Sterne des Himmels, der ans beiden
leuchtet, lockt uns." Bald darauf ist das Gedicht entstanden. Seine erste Ge¬
stalt war folgende:


[Beginn Spaltensatz] Füllest wieder 's liebe Thal
Still mit Nebelglanz,
Löscht endlich auch einmal
Meine Seele ganz. Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick
Wie der Liebsten Auge mild
Ueber mein Geschick. Das du so beweglich kennst,
Dieses Herz in Brand,
Haltet ihr wie ein Gespenst
An den Fluß gebannt, [Spaltenumbruch] Wenn in öder Winternacht
Er vom Tode schwillt.
Und bei Frühlings Lebenspracht
An den Knospen quillt. Selig wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Mann am Busen hält
Und mit dem genießt, Was dein Menschen unbewußt
Oder wohl veracht.
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht." [Ende Spaltensatz]

Der Herausgeber der Briefe an Frau v. Stein findet in dem ersten Text
eine "Doppelempfindung", im zweiten den "reinsten und seeligsten Empfindnngs-
gang". Diejenigen, welche der Meinung sind, daß der erste Wurf immer der


des Gedichtes den Triumphgesang des Genius, der aus dem mächtigen Rauschen
des Flusses die Melodie des Sieges über die Leiden der Vergangenheit ent¬
nimmt.

Folgt man dieser Deutung, so wird das Gedicht einheitlich und verständlich,
was es ohne dieselbe nicht ist. Denn die Flucht von der siegreichen Gemeinschaft
mit dem Strome, die in den köstlichsten Bildern ausgedrückt ist, zu der senti¬
mentalen Umarmung eines Freundes von Fleisch und Bein bleibt ein Unding,
eine Geschmacklosigkeit, läßt sich dem Dichter schlechterdings nicht zutrauen.
Freilich ist das Bild der Umarmung für die Seelengemeinschaft mit dem Flusse
sehr kühn, und außerdem klingt die Melodie der letzten beiden Strophen, ich
meine die Sprachmelodie, mehr ahnungsvoll als triumphirend.

Aber wir wissen ja aus den Briefen an Frau v. Stein, aus welchem An¬
laß das Gedicht entstanden ist; wir wissen, daß seine erste Gestalt eine völlig
andre war, wissen, daß es die jetzige ungefähr elf Jahre nach der ersten Ent¬
stehung erhalten hat. Vielleicht hilft die Vergleichung der beiden Texte zum
Verständniß des jetzigen Textes. Wir erinnern uns des Anlasses der Dichtung.
Ein Fräulein v. Lasberg hatte am 16. Januar 1778 aus unglücklicher Liebe
den Tod in den Wellen der Ilm gesucht. Tags darauf, als Goethe mit dem
Herzog sich auf dem Eise befand, wurde die Leiche der Unglücklichen gefunden
und zuerst in die Wohnung der Frau v. Stein gebracht. Am folgenden Tage
schrieb Goethe der Freundin: „Gute Nacht, Engel, schonen Sie sich und gehen
nicht herunter. Diese einladende Trauer hat etwas gefährlich Anziehendes, wie
das Wasser selbst; und der Abglanz der Sterne des Himmels, der ans beiden
leuchtet, lockt uns." Bald darauf ist das Gedicht entstanden. Seine erste Ge¬
stalt war folgende:


[Beginn Spaltensatz] Füllest wieder 's liebe Thal
Still mit Nebelglanz,
Löscht endlich auch einmal
Meine Seele ganz. Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick
Wie der Liebsten Auge mild
Ueber mein Geschick. Das du so beweglich kennst,
Dieses Herz in Brand,
Haltet ihr wie ein Gespenst
An den Fluß gebannt, [Spaltenumbruch] Wenn in öder Winternacht
Er vom Tode schwillt.
Und bei Frühlings Lebenspracht
An den Knospen quillt. Selig wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Mann am Busen hält
Und mit dem genießt, Was dein Menschen unbewußt
Oder wohl veracht.
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht." [Ende Spaltensatz]

Der Herausgeber der Briefe an Frau v. Stein findet in dem ersten Text
eine „Doppelempfindung", im zweiten den „reinsten und seeligsten Empfindnngs-
gang". Diejenigen, welche der Meinung sind, daß der erste Wurf immer der


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[0166] des Gedichtes den Triumphgesang des Genius, der aus dem mächtigen Rauschen des Flusses die Melodie des Sieges über die Leiden der Vergangenheit ent¬ nimmt. Folgt man dieser Deutung, so wird das Gedicht einheitlich und verständlich, was es ohne dieselbe nicht ist. Denn die Flucht von der siegreichen Gemeinschaft mit dem Strome, die in den köstlichsten Bildern ausgedrückt ist, zu der senti¬ mentalen Umarmung eines Freundes von Fleisch und Bein bleibt ein Unding, eine Geschmacklosigkeit, läßt sich dem Dichter schlechterdings nicht zutrauen. Freilich ist das Bild der Umarmung für die Seelengemeinschaft mit dem Flusse sehr kühn, und außerdem klingt die Melodie der letzten beiden Strophen, ich meine die Sprachmelodie, mehr ahnungsvoll als triumphirend. Aber wir wissen ja aus den Briefen an Frau v. Stein, aus welchem An¬ laß das Gedicht entstanden ist; wir wissen, daß seine erste Gestalt eine völlig andre war, wissen, daß es die jetzige ungefähr elf Jahre nach der ersten Ent¬ stehung erhalten hat. Vielleicht hilft die Vergleichung der beiden Texte zum Verständniß des jetzigen Textes. Wir erinnern uns des Anlasses der Dichtung. Ein Fräulein v. Lasberg hatte am 16. Januar 1778 aus unglücklicher Liebe den Tod in den Wellen der Ilm gesucht. Tags darauf, als Goethe mit dem Herzog sich auf dem Eise befand, wurde die Leiche der Unglücklichen gefunden und zuerst in die Wohnung der Frau v. Stein gebracht. Am folgenden Tage schrieb Goethe der Freundin: „Gute Nacht, Engel, schonen Sie sich und gehen nicht herunter. Diese einladende Trauer hat etwas gefährlich Anziehendes, wie das Wasser selbst; und der Abglanz der Sterne des Himmels, der ans beiden leuchtet, lockt uns." Bald darauf ist das Gedicht entstanden. Seine erste Ge¬ stalt war folgende: Füllest wieder 's liebe Thal Still mit Nebelglanz, Löscht endlich auch einmal Meine Seele ganz. Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick Wie der Liebsten Auge mild Ueber mein Geschick. Das du so beweglich kennst, Dieses Herz in Brand, Haltet ihr wie ein Gespenst An den Fluß gebannt, Wenn in öder Winternacht Er vom Tode schwillt. Und bei Frühlings Lebenspracht An den Knospen quillt. Selig wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Mann am Busen hält Und mit dem genießt, Was dein Menschen unbewußt Oder wohl veracht. Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht." Der Herausgeber der Briefe an Frau v. Stein findet in dem ersten Text eine „Doppelempfindung", im zweiten den „reinsten und seeligsten Empfindnngs- gang". Diejenigen, welche der Meinung sind, daß der erste Wurf immer der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/166>, abgerufen am 01.09.2024.